DHAMPIR - Blutsverrat
fernhalten?
Etwas bewegte sich unter der Bettdecke neben ihm.
Leesil sprang zur Seite, drehte sich und wich zur Wand des Zimmers zurück.
Laken und Decke waren hochgezogen und unberührt, sahen genau so aus, wie er sie am Morgen zurückgelassen hatte.
Niemand lag im Bett. Die Erinnerungen hatten ihm einen Streich gespielt. Doch Leesil starrte auch weiterhin auf die glatte Decke und wusste nicht, ob er seinen Augen trauen durfte. Mit dem Rücken an der Wand sank er nach unten und ging in die Hocke.
Er sollte eine Kerze anzünden und sich darauf vorbereiten, ins Bett zu gehen. Er sollte irgendetwas tun, um im Hier und Heute zu bleiben und sich nicht in seinen Erinnerungen zu verlieren. Doch er blieb zitternd im Dunkeln hocken und konnte einfach nicht vergesse n …
Hedí Progae.
Er hatte sie nur einmal gesehen. Nein, bei zwei Gelegenheiten, in gewisser Weise. Ein Gesicht unter vielen in seinem Gedächtnis. Und es lag alles so lange zurüc k …
Am Morgen seines siebzehnten Geburtstags hatte ihm seine Mutter ein Geschenk gegeben.
Der Holzkasten war so lang wie sein Unterarm, weniger als halb so breit und so dick wie zwei übereinandergelegte Hände. Er enthielt mit großem Geschick angefertigte Objekt e – ihr Metall glänzte heller als polierter Stahl.
Zwei Stilette, dünn wie Stricknadeln, ruhten auf einem zusammengerollten Garrottendraht mit zwei kleinen Holzgriffen. Hinzu kam eine gewölbte Klinge, scharf und stabil genug, durch Knochen zu schneiden. Ein Geheimfach im Deckel des Kastens enthielt Haken und Dietriche für das Knacken von Schlössern.
Kein Junge in seinem Alter hätte sich so etwas zum Geburtstag gewünscht.
Seine Mutter ging fort, als Leesil die einzelnen Gegenstände untersuchte. Als er merkte, dass sie nicht mehr da war, schloss er den Kasten und machte sich auf die Suche nach ihr. Im zweiten Stock des Hauses blieb er vor dem Zimmer seiner Eltern stehen und sah durch die halb offene Tür.
Cuirin’nên’ a … Nein’ a … Mutte r …
Sie saß auf der anderen Seite des Zimmers am Fenster, und ihr Blick ging über den See zum Wald und zum Himmel, alles wie unerreichbar fern hinter dem Glas. Ihre makellose karamellfarbene Haut, das weißblonde Haar und die großen mandelförmigen Augen wirkten fast hypnotisch auf Leesil. Sie wirkte wie eine überirdische Statue aus glatt poliertem Holz, blieb still und unbewegt, bis auf die Tränen, die ihr über die Wangen rannen.
Leesil wandte sich ab, denn er brachte es nicht fertig, sie noch länger zu beobachten.
Etwas zog an seinem Hosenbein, und er sah nach unten. Chap ließ wieder los und lief die Treppe hinunter. Leesil folgte dem einzigen Freund seiner Kindheit durchs Haus zur Küche. Als Chap dort an der Klappe in der Ecke jaulte, hielt Leesil sie für ihn auf. Chap sprang mühelos in den Keller und wartete, bis Leesil ihm erneut folgte.
Er zündete die auf dem Boden stehende Lampe an. Der Keller enthielt nicht viel. Möbel gab es darin nicht, und die Vorräte beschränkten sich auf eine Kiste mit getrockneten Lebensmitteln, ein Fass mit Stoffen und kleine Säcke und Beutel mit Gemüse. An den steinernen Wänden hingen einige leichte, kurze Klingen und ein Schild.
Leesil öffnete den Kasten wieder und fragte sich, warum seine Mutter weinte, obwohl sie mit solchem Nachdruck auf der harten Ausbildung bestanden hatte. Seine Finger tasteten über ein Stilett, als sich die Luke über ihm öffnete.
Sein Vater kam die Leiter herab.
Gavril achtete bei seiner Kleidung immer auf neutrale, dunkle Farben. Das braune Haar fiel ihm bis auf die Schultern, und weicher Flaum bedeckte das Kinn. Seine schmalen Hände sahen aus, als gehörten sie einem Musiker oder vielleicht einem Silberschmied.
LeesilhobeinenDietrich,auseinemDrahtgefertigt,deretwasdickerwaralsdieanderen.»WelcheArtvonSchlossöffnetmanhiermit?«
Sein Vater hob die Hand, eine Geste, die seinem Sohn Schweigen gebot. »Unser Herr hat eine Aufgabe für dich.«
Leesil blinzelte. Er hatte Lord Darmouth nur einmal gesehen, vor vier Jahren, als der Herrscher seine Festung verlassen und ein Regiment aus der Stadt geführt hatte. Gavril war damals angewiesen worden, dabei zugegen zu sein, und Leesil hatte zusammen mit seinem Vater auf der Straße gewartet, unweit des Wachhauses auf der steinernen Brücke vor der Festung.
Darmouth ritt einen grauen Hengst, der so groß war, dass Leesil zu fühlen glaubte, wie jeder einzelne Hufschlag durch die Brücke vibrierte. Der Lord stieg nicht ab, winkte
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