DHAMPIR - Blutsverrat
sein Vater ihn gehen. Anschließend saß er allein in seinem Zimmer, die Tür geschlossen, und hörte kaum, wie Chap draußen kratzte.
Etwas später brachte Gavril ihn zur Festung. Wächter führten ihn zu einem Alkoven, und dort erstattete er zum zweiten Mal Bericht. Lord Darmouth nickte anerkennend.
»Niemand wird wissen, dass er tot ist, bis meine Soldaten von seinem Lehen Besitz ergreifen. Du hast gute Arbeit geleistet, Junge. Progaes Verrat endete, bevor er etwas gegen mich unternehmen konnte.«
Leesil sagte sich immer wieder, dass er einen Verräter getötet hatte. Fast einen ganzen Monat gelang es ihm, seine Tat damit zu rechtfertigen.
Seine Mutter wurde zu einer Feier in die Burg gerufen, und sein Vater beschloss, an jenem Abend mit Leesil auszugehen. Unterwegs kamen sie an einigen Adligen vorbei, die in vollem Staat zur steinernen Brücke ritten.
In einer abgelegenen Taverne saß Leesil allein an einem Tisch und aß gebratenes Lammfleisch, während Gavril an der Theke mit einem Mann namens Byrd sprach. Im Stimmengewirr der anderen Gäste hörte er nicht, worüber sie redeten. Aber dafür hörte er, wie ein in der Nähe sitzender Mann einen ganz bestimmten Namen nannte.
»Wie schmachvoll«, sagte er. »Das mit Progae.«
Leesil ließ die Gabel sinken.
Er war natürlich nicht so dumm, sich einzumischen. Sein Vater hatte ihm eingeschärft, selbst in dieser Taverne die Kapuze aufzubehalten. Sein Haar unterschied sich zu sehr von dem der anderen Leute. Er blieb mit dem Rücken zu dem Mann sitzen, der gesprochen hatte, und stocherte mit der Gabel im Essen.
»Das mit Progae?«, fragte ein zweiter Mann. »Wie ich hörte, war er ein Verräter.«
»Ich meine seine Familie«, sagte der erste.
»Was ist mit ihr?«, fragte eine dritte, tiefere Stimme.
»Seine Frau und die beiden jüngsten Töchter sind auf der Straße verhungert.«
Leesil erstarrte.
»Was?«, fragte der zweite Mann. »Niemand hat ihnen geholfen?«
»Sie waren Ausgestoßene«, sagte der erste. »Blut eines Verräters und so weiter. Und ich schätze, sie waren für niemanden mehr nützlich. Nicht einmal ihre Verwandten wollten sie aufnehmen, vermutlich aus Furcht, dass es sie ebenfalls treffen könnte. Nur das älteste Mädchen überlebte. Darmouth soll sie einem seiner loyalen Adligen als Mätresse gegeben haben.«
»Schade um sie alle«, sagte der dritte Mann. »Ich habe sie beim Erntefest im letzten Jahr gesehen. Lady Progae war eine Augenweide, und die älteste Tochter kam ganz nach ihr. Ihr Name lautet Hedí, glaube ich. Warum Frauen und Kinder verstoßen? Es war Progaes Verrat, nicht ihrer.«
»Pass auf, was du sagst!«, flüsterte der zweite Mann. »Du und deine Famili e … Seid froh, dass ihr nicht mit einem Verräter blutsverwandt seid. Was mich betriff t … Ich kann es gar nicht abwarten, dass der nächste Frühling kommt. Dann bringe ich meine Waren für eine Weile von hier fort.«
Leesil legte die Gabel auf den Tisch und erhob sich langsam. Er kehrte den Männern auch weiterhin den Rücken zu und versuchte nicht, ihre Gesichter zu sehen. Ohne ein Wort an seinen Vater zu richten, ging er zur Tür und verließ die Taverne.
Mit langen Schritten eilte er durch die dunklen Straßen. Als er sein Elternhaus erreichte, betrat er es durch die Küchentür, starrte dort aus dem Fenster und beobachtete die Festung im See.
» Léshil ?«, erklang eine sanfte Stimme hinter ihm. »Was ist?«
Er wirbelte herum. Seine Mutter stand in der Küchentür, Chap an ihrer Seite.
Nur Nein’a sprach ihn mit diesem Namen an. Der andere war einfacher, aber ihre Muttersprache beeinflusste noch immer ihre Redeweis e – ihre Worte klangen sowohl melodisch als auch kehlig. Leesil fragte sich, ob alle ihre Angehörigen auf diese Weise sprachen.
Und er fragte sich, warum sie so früh von ihren Pflichten in der Festung zurückgekehrt war.
Sie trug ein braunes Gewand, das zu ihrer Hautfarbe passte, mit einem Pflanzenmuster. Hinzu kam ein mitternachtsgrüner Mantel mit Hermelinbordüre; die Kapuze war über den Kopf gezogen.
Chap jaulte leise und sah mit aufgestellten Ohren zu Leesil hoch. Er hörte auf, mit dem Schwanz zu wedeln.
Leesils Mutter zeigte sich ihm gegenüber nur selten liebevoll, aber als sie jetzt zu ihm trat, lag unübersehbare Sorge in ihren Augen.
»Was ist los?«, fragte sie. »Wo ist dein Vater?«
Leesil schwieg noch immer, doch die Furcht wich aus Nein’as Gesicht.
Ihre bernsteinfarbenen Augen blickten in seine. Sie presste die
Weitere Kostenlose Bücher