DHAMPIR - Blutsverrat
Sie hatte den einen Arm um die neben ihr sitzende Tochter gelegt.
Die Tochter schien etwa fünfzehn zu sein, auf jeden Fall etwas jünger als Leesil. Dichtes, lockiges schwarzes Haar fiel auf ihre Schultern. Sie hatte helle Haut, und Nase und Mund waren recht klein, was die dunklen Augen noch größer wirken ließ. Leesil erkannte in ihr den Adel des Vaters und den Reiz ihrer Mutter. Er hatte bereits einige junge Frauen kennengelernt, und das Mädchen auf dem Porträt erschien ihm sehr hübsch.
Leesil errötete unter Kapuze und Gesichtstuc h – wie dumm von ihm, sich von einem Bild erschrecken zu lassen. Er zwang sich, ruhiger zu atmen, und setzte den Weg fort.
Kurze Zeit später erreichte er den Treppenabsatz des dritten Stocks und einen leeren Flur. Die Wächter waren alle draußen, und die Bediensteten schliefen. Er sah zur dritten Tür auf der rechten Seite. Wahrscheinlich war sie nicht abgeschlossen, aber er hatte bereits zwei Dietriche im Mund, nur für den Fall.
SchnellundleiseschlichLeesildurchdenFlurundstelltefest,dassdieTürtatsächlichunverschlossenwar.Progaeahntenicht,dassmanihnalsVerräterentlarvthatte.LeesildrücktedieKlinkevorsichtignachuntenundöffnetedieTürganzlangsam,umjedesKnarrenzuverhindern,schlüpftedanninsZimmerunddrücktedieTürhintersichzu.ErnahmdieDietricheausdemMundundschlossmitihnenab.
Der Raum enthielt ein Himmelbett. Es war so riesig, dass Leesil zunächst gar nicht sicher sein konnte, ob dort jemand schlief. Von Frisierkommode und Truhe bis hin zum Stuhl am Fenster und den Beistelltische n – im Dunkeln schienen alle Einrichtungsgegenstände des Zimmers besonders groß zu sein. Leesil duckte sich und lauschte den regelmäßigen Atemzügen des Schlafenden. Auf leisen Sohlen näherte er sich dem Bett.
Progae lag auf dem Rücken, der Mund war fast ganz geschlossen. Eine dicke Steppdecke hatte er bis zum Hals hochgezogen. Leesil zögerte. In ihm war plötzlich alles leer, und er konnte sich nicht mehr bewege n – bis er in Gedanken die Stimme seines Vaters hörte.
Das ist der Grund, warum wir noch lebe n … Unser Überleben hängt davon ab. Tu, was nötig ist.
Leesil beobachtete, wie Progae zwei weitere Atemzüge machte.
Er zog ein silbernes Stilett aus der Unterarmscheide und stellte sich so ans Bett, dass er Progaes Gesicht mit der linken Hand erreichen konnte. In der rechten hielt er das Stilett. Eine Lektion seiner Mutter fiel ihm ein.
Ein Schlafender rollt sich immer von der Berührung weg, noch bevor er erwacht.
Leesil beugte sich vor und strich mit der linken Hand über Progaes Wange. Der Mann bewegte sich und rollte zur Seite, zeigte dadurch seinen Nacken. Leesil folgte der Bewegung und presste die linke Hand auf den Mund des Mannes. Der Rest nahm weniger Zeit in Anspruch als ein Blinzeln.
Der Kopf des Mannes sank zur Seite, von Leesils Unterarm ins weiche Kissen gedrückt. Gleichzeitig stieß er mit dem Stilett zu und rammte es in den Nacke n – die Spitze kratzte über den ersten Wirbel hinweg und bohrte sich ins Gehirn. Die Klinge hielt inne, als der Bügel am Griff auf die Haut traf.
Progae zuckte heftig zusammen und erschlaffte dann.
Ein Blutklecks bildete sich am Heft des Stiletts. Im dunklen Zimmer wirkte er schwarz.
Leesil hielt den Kopf seines Opfers ins Kissen gedrückt. Er wusste nicht, wie lange er auf diese Weise verharrte, aber irgendwann schmerzten die Muskeln in seinem linken Arm, und daraufhin erwachte er aus seiner Starre. Er zog das Stilett aus dem Schädel, rollte die Leiche auf den Rücken und vergaß, die Klinge abzuwischen, bevor er sie in die Unterarmscheide zurücksteckte.
Progaes nussbraune Augen starrten über dem aufgerissenen Mund nach oben. Leesil schloss Augen und Mund und strich die Steppdecke glatt. Er verließ das Zimmer, schloss die Tür von außen mit den Dietrichen ab und huschte durch den Flur zur Treppe.
In den folgenden Jahren erinnerte er sich nicht mehr daran, wie er Progaes Feste verlassen hatte, ob er vorsichtig gewesen oder den ganzen Weg nach Hause gerannt war.
Kurz vor der Morgendämmerung kehrte er außer Atem zurück und stellte fest, dass seine Eltern auf ihn warteten. Nein’a sah aus dem Küchenfenster, als er durch die Hintertür hereinkam. Ohne ein Wort ging er an ihr vorbei, aber Gavril stand in der Tür des vorderen Zimmers und versperrte ihm den Weg. Leesil musste stehen bleiben.
Er erstattete Bericht, ohne seine Eltern dabei anzusehen. Als er schwieg und klar war, dass er alles gesagt hatte, ließ
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