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DHAMPIR - Dunkelland

DHAMPIR - Dunkelland

Titel: DHAMPIR - Dunkelland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barb & J. C. Hendee
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den Körper prickeln, um in der Finsternis sehen zu können. Es schien ein ganzes Leben her zu sein, dass sie zum letzten Mal hier gewesen war.
    Dorffriedhöfe in Dröwinka waren kaum mehr als Lichtungen im Wald, auf denen man verhinderte, dass das Gebüsch zu dicht wurde. Die Zweige hingen nicht ganz so tief und gaben den Blick auf den Nachthimmel frei, doch der Mond stand zu niedrig, um genug Licht zu geben. Magiere bemerkte einige Grabmäler aus Holz, und Abendnebel schuf einen Teppich zwischen ihnen.
    Einige Grabmäler bestanden aus Brettern oder Pfählen, einige wenige neue aus Stein. Letztere waren recht teuer; vielleicht konnten sich einige Dorfbewohner Grabsteine nur deshalb leisten, weil sie während der Jahre ohne Lehnsherrn keine Steuern hatten zahlen müssen. Wie seltsam: Der größere Wohlstand der Lebenden kam im Gedenken an die Toten zum Ausdruck.
    Aber es waren nicht ihre eigenen Erinnerungen, nach denen sie zwischen den Toten suchte. Sie kam, um etwas über die letzten Augenblicke ihrer Mutter herauszufinden, aus dem Blickwinkel ihres Mörders.
    Magiere blieb stehen.
    Sie erinnerte sich an den Totenkopf, den sie vor kurzer Zeit in Händen gehalten hatte. In Bela hatten ihr Fetzen von einem Kleid und die Nähe des Tatorts eine Vision der letzten Momente des ermordeten Mädchens beschert: Sie hatte den Mord aus Welstiels Sicht erlebt und das Gefühl gehabt, selbst die Zähne in den Hals des Opfers zu bohren.
    Doch um herauszufinden, wo ihre Mutter gestorben war, brauchte sie Knochen. Ihre Kleider waren nach all den Jahren in der Erde sicher vermodert.
    »Verzeih mir«, flüsterte sie und zog ihr Falchion. »Ich muss Bescheid wissen und feststellen, ob er es gewesen ist, Mutter.«
    Ihr blieb nicht genug Zeit, sich einen Spaten zu beschaffen, ohne Verdacht zu erregen, und deshalb musste sie mit der Klinge vorliebnehmen. Sie trat vor und hielt nach etwas Ausschau, das Erinnerungen an diesen Ort zurückbrachte, an das Grab ihrer Mutter. Die Hand, die das Heft des Falchions hielt, wurde feucht von Schweiß.
    Während ihres letzten Frühjahrs im Dorf war Magiere mit Tante Bieja zu einem Holzschnitzer in einem Nachbardorf gegangen. Dort hatte ihre Tante für ein neues Grabmal bezahlt, denn das alte war verwittert und verfault. Einen halben Tag Feldarbeit hatten sie beide bei jener Gelegenheit verloren.
    Magiere blieb noch einmal stehen und sah sich erneut um.
    Sieerinnertesichdaran,dassdasGrabmalaufdersüdlichenSeiteeinergroßenTannegestandenhatte.BeimStammdesnächstenBaumesgingsieindieHocke,sahaberkeineMarkierung,dieihrvertrauterschienoderdenNamenihrerMuttertrug.
    Ihre Furcht vor der Aufgabe schwand hinter zunehmender Sorge. Wo war das Grab ihrer Mutter? Sie richtete sich auf, sah zurück und fragte sich, ob sie zu weit gegangen war. Die Grabmäler in diesem Teil der Lichtung waren recht alt; das Grab ihrer Mutter sollte also in der Nähe sein.
    Magiere hörte, wie sich in der Nähe Zweige bewegten, vielleicht von einem Windstoß erfasst. Sie blickte über den Weg, sah aber nur den dichten Wald. Wenige Schritte vor ihr endete die Friedhofslichtung. Sie drehte sich um und kehrte in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war.
    An einer anderen freien Stelle bemerkte sie mehrere kleine Grabsteine, die jedoch nichts Vertrautes für sie hatten. Erneut hörte sie den Wind, und diesmal war sein leises Zischen näher.
    Magieres Instinkt erwachte plötzlich, und sie duckte sich hinter einen Baum. Ein langes Objekt sauste heran und bohrte sich in den Baumstamm, und sie hörte, wie sich Rinde unter dem Aufprall löste.
    Eine schattenhafte Gestalt tauchte wenige Schritte entfernt auf. Magiere trat zur Seite, und das Sternenlicht genügte ihr, um die entstellte Seite eines Gesichts zu erkennen.
    Adryan hielt einen langen Stab mit einer dicken Erweiterung am einen Ende in beiden Händen und schwang ihn wie ein horizontales Pendel hin und her.
    »Du suchst wieder nach deiner Mutter«, sagte er leise.
    Es war keine Frage. Zorn weckte Dhampir-Hunger in Magieres Magen, und ihr Blick wurde noch schärfer. Adryans Miene zeigte keinen offenen Hass, sondern eine Mischung aus Schmerz und Hoffnung. Er folgte ihr, als sie weiter auf die Lichtung trat, und sein Stab blieb die ganze Zeit über in Bewegung.
    »Was hast du getan?«, fragte Magiere und sah sich um. »Wo ist das Grab meiner Mutter? Wo ist das Grabmal?«
    Dünne Falten in Adryans Stirn wiesen darauf hin, dass er nicht verstand.
    »Du bist der Rest«, sagte er.

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