Dhampir: Steinerne Flut (German Edition)
begriff, dass er sie am linken Handgelenk in die Höhe hielt. Die wenigen Dinge, die sie mitgenommen hatte, lagen vor ihren zitternden Beinen auf dem Boden. Mühsam richtete sie sich auf.
»Lasst mich los«, wollte sie sagen, schaffte aber nur ein Krächzen.
»Erst wenn Ihr aus eigener Kraft stehen könnt«, lautete die Antwort.
Erz-Locken erschien vor ihr.
»Beim ersten Mal ist es am schlimmsten«, sagte er. »Obwohl es nur wenige gibt, die auf diese Weise gereist sind.«
Wynn keuchte und hustete, und Erz-Locken sah Asche-Splitter sorgenvoll an. Schließlich gelang es ihr, sich ganz aufzurichten.
»Sie wird sich erholen«, sagte Asche-Splitter.
Er ließ Wynns Handgelenk los, und ihr Arm fiel schlaff an ihre Seite.
»Kehr mit ihr zurück, wenn sie fertig ist«, fügte er hinzu und trat an Wynn vorbei.
Die junge Weise drehte sich langsam, mit noch immer weichen Knien, sah hinter sich aber nur die raue Höhlenwand. Asche-Splitter war verschwunden, und sie war mit Erz-Locken allein.
»Warum hat er sich die Mühe gemacht … uns zu begleiten, wenn Ihr bei mir bleibt?«, brachte sie zwischen zwei Atemzügen hervor.
»Ich kann noch niemanden mitnehmen, so wie er.«
Wynn atmete wieder einigermaßen normal und schaute sich um.
Sie befand sich in einer großen Kaverne. Die Decke war niedrig, aber sie konnte aufrecht stehen. Ihr fehlte jede Vorstellung, welche Strecke sie zurückgelegt hatte, aber der Geruch deutete darauf hin, dass das Meer nicht weit sein konnte.
Sie erstarrte, als sie sah, was sich auf der anderen Seite der Höhle befand.
Drei kleine Truhen standen dort, und über ihnen erstreckten sich steinerne Regale. Im untersten von ihnen lag ein Bündel aus Häuten, eingefasst von zwei Quadraten aus fleckigem Eisen. Es waren die ersten Texte, die Chap und Wynn entdeckt hatten, in der Nacht, als Li’kän sie im Schneesturm gefunden und ins eisige Schloss gebracht hatte.
Wynn war noch immer so benommen, dass sie keine echte Erleichterung empfand. Sie griff in die Tasche und holte den Kristall hervor, der in ihrer kalten Hand aber nicht einmal zu glühen begann.
Sie rieb ihn ungeschickt, woraufhin er aufleuchte. Als sie sich nach ihren zu Boden gefallenen Dingen bückte, kam Erz-Locken ihr zuvor und hob sie auf. Wynn nahm sie entgegen, achtete nicht auf den Zwerg und wankte durch die Höhle. Sie hatte sie halb durchquert, als sie hinter sich ein Platschen hörte.
Schwankend drehte sie sich um.
Konzentrische Wellen breiteten sich in einem mit Wasser gefüllten Becken aus, und eine weiße Speerspitze erschien in der Mitte, gefolgt von dornenartigen Höckern auf einem haarlosen blaugrünen Kopf.
Runde schwarze Augen kamen aus dem Wasser, und Wynn sah sich einem der Meereswesen gegenüber.
Im Licht des Kristalls erkannte sie die Schlitze dort, wo sich bei Menschen die Nase befand, und durchsichtige Membranen zwischen den Kopfdornen. Das Wesen richtete sich so weit auf, dass Wynn auch die Schwimmhäute zwischen seinen klauenartigen Fingern und an den Außenseiten der Unterarme sehen konnte. Die Bauchmuskeln wirkten seltsam, anders als bei Menschen, und es fehlte ein Nabel.
Das Geschöpf öffnete den Mund und zeigte nadelspitze Zähne. Die Augen hatten keine erkennbaren Pupillen, und deshalb ließ sich kaum feststellen, wohin der Blick ging. Erst als sich das Wesen Erz-Locken zuwandte, wurde klar, wen es ansah.
Erz-Locken ging in die Hocke, klopfte auf den Boden und nickte. Der Meeresmann sank zurück, bis das Wasser die Schlitze in seinem Hals und den Mund bedeckte, aber nicht die Augen.
»Warum ist er hier?«, fragte Wynn.
»Er ist ein Wächter«, sagte Erz-Locken. »Ich kann nicht mit ihm sprechen, habe ihm aber versichert, dass unsere Präsenz an diesem Ort genehmigt ist.«
»Wer sind diese Meereswesen? Und woher stammen sie? Warum sind sie zu dem Prinzen gekommen?«
Erz-Locken wandte sich ab und ging zu den steinernen Regalen. »Wo möchtet Ihr anfangen?«
Wynn zögerte, beobachtete noch immer den haarlosen Kopf mit den Zacken und die runden schwarzen Augen. Langsam wich sie in Richtung der Regale zurück.
»Holt die drei Truhen hervor, damit ich eine als Tisch verwenden kann«, sagte sie und gewann dadurch einige Momente.
Bis zu ihrem Eintreffen an diesem Ort hatte Wynn mit dem einen oder anderen Gedanken gespielt. Sie hatte auf eine Gelegenheit gehofft, einige wichtige Seiten zu stehlen oder vielleicht einen ganzen Text mitzunehmen. Möglicherweise hätte sie einen anderen Eingang finden
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