Dhampir: Steinerne Flut (German Edition)
sie früher oder später nach unten. Das Wie und Wo stand auf einem anderen Blatt – Wynn hätte gern weitere Informationen gesammelt, bevor sie sich in unbekannte Regionen wagte. Plötzlich bedauerte sie, dem freundlichen Hundebesitzer keine weiteren Fragen gestellt zu haben.
»Wir setzen den Weg durch den Haupttunnel fort«, entschied sie. »Vielleicht bringt er uns nach unten.«
Sie gingen weiter.
Eine Säulenreihe reichte durch die Mitte des Schrägen Hauptwegs, den Wynn erstaunlich fand, nicht nur wegen seiner Größe, sondern auch wegen der chaotisch wirkenden Gebäude, die ihn säumten.
Läden und Verkaufsstände waren in den Fels gemeißelt oder aus ihm herausgehauen, ohne dass ihrer Größe und Form ein einheitliches Muster zugrunde lag. Zwischen einem Gebäude mit einer breiten Doppeltür und einem anderen mit einem Torbogen, in dem ein hübscher Vorhang hing, erhob sich eins mit drei vertikalen, unterschiedlich geformten Fenstern: dreieckig, quadratisch und sechseckig. Gelegentlich standen Verkaufsbuden aus Holz oder Segeltuch rings um eine Säule, aber alle waren für die Nacht geschlossen.
Wynn bekam keine Gelegenheit, jemanden nach dem Weg zu fragen. Die wenigen Zwerge, denen sie begegneten, hatten es offenbar sehr eilig, nach Hause zu kommen. Sie alle blieben auf der anderen Seite des Haupttunnels, als sie Schatten bemerkten.
»Wenn uns niemand den Weg weisen kann, sollten wir eine Unterkunft suchen«, schlug Chane vor. »Morgen werden mehr Leute unterwegs sein. Außerdem können wir die Eisenborten nicht mitten in der Nacht besuchen, wenn gute Manieren hier eine Rolle spielen.«
»Ich möchte wenigstens feststellen, wo sie wohnen, und du kannst tagsüber nicht …« Wynn zögerte. »Oh. Ich schätze, hier kannst du tagsüber doch auf den Beinen sein.«
Daran hatte sie bisher nicht gedacht. In den Höhlen und Tunneln erreichte Chane kein Sonnenlicht; er musste tagsüber also nicht irgendwo Schutz suchen.
»Suchen wir noch ein bisschen«, sagte Wynn.
Schließlich blieb der letzte Laden hinter ihnen zurück. Weiter vorn führte der Tunnel in einen hohen, gewölbten Raum breiter als der Hauptweg. Vier dünnere Säulen stützten die Decke, und in den Wänden gab es die Öffnungen von Nebentunneln. Auf beiden Seiten reichten Treppen nach oben. Direkt gegenüber führte ein breiter Tunnel weiter nach unten und nach links.
Wynn hörte Schritte von dort.
Es dauerte eine Weile, bis die Gestalt das Licht des großen Raums erreichte. Eine alte Zwergin in einem verblichenen Gewand humpelte näher und stützte sich dabei auf einen Gehstock. Ihr Haar war so dünn, dass man die von Altersflecken übersäte Kopfhaut sehen konnte. Zahlreiche Falten umgaben ihre kleinen Augen. Gebückt war sie kleiner als Wynn, aber fast doppelt so breit, und auf der einen zerfurchten Wange hatte sie einen großen Leberfleck.
»Alte Mutter«, sagte Wynn und benutzte eine respektvolle Anrede, die sie von Domin Tilswith gelernt hatte, »wir suchen die Eisenborten. Kannst du uns helfen?«
Die alte Zwergin hob den Blick ihrer milchigen Augen und schüttelte den Kopf.
»Ich wohne erst seit kurzer Zeit unten … bei entfernten Verwandten …«
Ihre klare Stimme verklang. Vielleicht hatte sie nahe Familienangehörige verloren oder einen anderen Schicksalsschlag erlitten, durch den sie gezwungen war, bei Verwandten in der Unterseite unterzukommen.
»Darf ich fragen, wo du wohnst?«, sagte Wynn vorsichtig. »Vielleicht wohnen die Leute, die ich suche, in der Nähe.«
Die Alte holte tief und mühsam Luft. »Geht den ganzen Weg hinunter bis Âyillichreg Bâyir … Kalkstein-Hauptweg. Haltet dort nach dem Cheag’anâkst namens Kìnnébuây Ausschau, das immer geöffnet hat.«
»Cheag’anâkst?«, wiederholte Wynn und versuchte, etwas mit dem Begriff anzufangen. »Ein Begrüßungshaus?«
Die alte Zwergin nickte. »Die Ortsansässigen dort haben vielleicht von deinen Freunden gehört.«
»Danke«, sagte Wynn.
Sie wollte noch etwas hinzufügen und vielleicht einen Handel für nützliche Informationen anbieten, aber die Alte humpelte schon weiter.
»Was ist dieses … Begrüßungshaus?«, fragte Chane. »Eine Taverne?«
»Nicht unbedingt«, erwiderte Wynn. »Ich bin nie in einem gewesen. Nach dem, was ich gehört habe, ist es eine Mischung aus Esslokal, Herberge und Versammlungsort.«
»Eine Art Gemeinschaftshaus.«
Wynn schüttelte den Kopf. »Dafür gibt es im Zwergischen ein anderes Wort. Und solche Orte sind allein für
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