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Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)

Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)

Titel: Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barb J. C. Hendee
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außen sehen zu dürfen. Er war und blieb ein Außenseiter – ein Ungeheuer – und konnte nie ein Teil von Wynns Welt werden.
    Nachdenklich holte er die uralte Schriftrolle hervor und breitete sie aus.
    »Wynn«, flüsterte er. »Welche Texte hast du mitgebracht? Hast du einen Hinweis auf dieses Geheimnis gefunden?«
    Und am vergangenen Abend hatte er den Hund vor dem »Aufrechten Federkiel« wiedergesehen. Er war größer und schwerer geworden, doch es handelte sich um den Hund, dem er über den westlichen Ozean gefolgt war.
    Und Wynn hatte gesehen, wie er im Skriptorium versucht hatte, einen Folianten zu stehlen.
    Zwar hatte sie ihn zur Flucht aufgefordert, aber zu welchen Schlüssen musste sie gelangen? Sie hatte auch das Etwas gesehen, das ihn angegriffen hatte und durch Wände gehen konnte.
    Chane begriff, dass er etwas unternehmen musste, wie groß das Risiko auch sein mochte. Eigentlich hatte er kaum etwas zu verlieren. Wynn wusste, dass er sich in der Stadt befand, und unter diesen Umständen war eine direkte Vorgehensweise die beste.
    Er riss ein Blatt aus einem leeren Tagebuch und schrieb eine kurze Mitteilung.
    Dann ging er nach unten zum schmierigen Wirt und beauftragte ihn mit der Zustellung der Nachricht.
    Vor dem Abendessen machte Wynn einen Abstecher zum Hospiz und besuchte Nikolas. Er lag auf einem schmalen Bett, und sein Zustand war unverändert. Zwar lebte und atmete er, und ein Hauch von Farbe war in sein Gesicht zurückgekehrt, aber sein Leib hatte sich noch immer zusammengekrümmt. Halb geöffnete Augen starrten ins Leere und schienen nie zu blinzeln. Er blieb selbst dann in einer eigenen Welt gefangen, wenn seine Lider für einen Moment ganz nach oben kamen.
    Wynn hatte gehört, wie Meister Bitworth, ein Meister der Naturologie, Hochturm gesagt hatte, dass sie recht unangenehme Methoden nutzen mussten, um Nikolas Brühe und Wasser einzuflößen. Wynn fragte sich, welche »Methoden« damit gemeint waren, aber sie wusste: Wenn jemand Nikolas am Leben erhalten konnte, so waren es Bitworth und Meister Adlam.
    »Kehr bald zu uns zurück«, flüsterte sie Nikolas ins Ohr und strich ihm übers Haar mit den grauen Strähnen.
    Sie verließ das Hospiz, machte sich auf den Weg zum Gemeinschaftsraum und überlegte, auf welche Weise man sie dort empfangen würde. Als sie durch den Torbogen trat, sahen einige der Anwesenden auf.
    Es wurde geflüstert, und andere Köpfe drehten sich, bis alle zumindest kurz in ihre Richtung gesehen hatten. Ihre Drohung, vor dem Generalanwalt Anspruch auf die Texte zu erheben, musste sich schnell herumgesprochen haben. Vielleicht hatte Premin Skyion selbst die Geschichte durchsickern lassen. Wynn versuchte, ruhig zu bleiben, sah sich nach einem leeren Tisch um und hoffte, dass man sie in Ruhe ließ.
    In den letzten Tagen hatte sie die Gesellschaft von Miriam und Nikolas als willkommene Abwechslung empfunden. Jetzt war Miriam tot, und Nikolas war in einer inneren Welt des Schreckens gefangen. Und das alles, weil ihre Oberen die Augen vor der Wahrheit verschlossen.
    Angesichts der Ausgangssperre war der Saal ziemlich voll. In dieser Nacht würde niemand die Gilde verlassen, nicht einmal, um in irgendeinem Wirtshaus etwas zu essen oder zu trinken.
    Schließlich entdeckte Wynn einen leeren Tisch in der rechten Ecke, weit vom Kamin entfernt. Sie füllte sich einen Teller mit brauner Bohnensuppe aus einem großen Topf, der in der Mitte des Saals auf einem Tisch stand, und nahm in der Ecke Platz. Es überraschte sie nicht, dass die in der Nähe sitzenden Gildenmitglieder ganz plötzlich mit ihrer Mahlzeit fertig wurden.
    Sie hielt den Blick auf ihren Teller gerichtet und achtete nicht auf das Flüstern. Einmal machte sie den Fehler, kurz aufzusehen.
    Regina Melliny saß bei einer kleinen Gruppe von Lehrlingen aus verschiedenen Orden, und gedämpfte Stimmen kamen von dort. Wynn hörte einmal das Wort »Verräterin«, und Regina hob den Kopf und rümpfte die Nase.
    Das war zu viel.
    Wynn nahm ihren Teller und stand auf. In ihrem Zimmer konnte sie allein sein; dort musste sie sich nicht wie eine Ausgestoßene fühlen. Als sie den Saal verlassen wollte, kam ein Lehrling in rostbraunem Umhang durch den Haupteingang und sah sich um.
    »Reisende Hygeorht?«
    Wynn nickte ihm zu. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen war er nicht begeistert davon, mit ihr zu sprechen. »Vorne am Tor wartet ein Junge mit einer Nachricht. Er hat nach dir gefragt.«
    Wynn setzte den Teller ab.

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