Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
Vergangenheit, die sie aufgegeben hatte. Sie erinnerte sich an Worte, die sie einmal von Leesil gehört hatte: »Man sollte nie durch sein eigenes Leben zurückgehen.« Es klang banal, aber die Worte enthielten eine tiefe Wahrheit.
Und doch … Wie lange war es her, dass sie Zeit mit jemandem verbracht hatte, der ihr etwas bedeutete, der sie kannte ? Mit jemandem, der nicht nur ihren Berichten von Untoten glaubte, sondern auch mehr über sie wusste als sie selbst?
Chane war eine solche Person, ein Untoter wie die schwarze Gestalt, die Gildenmitglieder getötet hatte. Und er war durch die halbe Welt gereist, um sie zu suchen und ihr zu helfen. Sie brauchte Hilfe von jemandem, der genau verstand, womit es ihre Gilde zu tun hatte.
Ein Teil von ihr sehnte sich nach seiner Gesellschaft, doch er hatte ihre letzte Frage nicht beantwortet. Sein Schweigen sprach Bände.
Wynn steckte den Kaltlampen-Kristall ein und schob den Blechzylinder mit der Schriftrolle unter ihren Mantel.
Während sie ging, vermied sie es, den Stab auf den Boden zu setzen – sie wollte so wenige Geräusche wie möglich verursachen. Dass sie Chanes Hilfe angenommen hatte, weckte gemischte Gefühle in ihr, aber gleichzeitig regte sich auch Hoffnung.
Ihre Oberen erlaubten ihr endlich Zugang zu den übersetzten Texten und zum Kodex, und außerdem hatte sie von Chane die Schriftrolle bekommen, die Li’kän für sie ausgewählt hatte. Diese Kombination führte vielleicht zu Antworten – wenn es ihr gelang, herauszufinden, welche Schriftzeichen aus dem getrockneten Blut eines Untoten sich hinter den geschwärzten Stellen verbargen. Noch immer lagen viele Schwierigkeiten vor ihr, und Wynn versuchte, nicht daran zu denken; andernfalls hätte sie vielleicht die Hoffnung verloren.
Wynn erreichte die Liefigstraße und setzte den Weg zur Alten Mauerstraße fort.
Zwei Stadtwächter auf Streife kamen von der linken Seite der Kreuzung.
Wynn eilte zu einem Laden, blieb im Schatten unter der Markise stehen und wagte kaum zu atmen.
Beim Verlassen des Gildengeländes hatte sie nur zwei von Rodians Männern gesehen, und es erstaunte sie, dass er noch mehr damit beauftragt hatte, entlang des Bogens der Alten Mauerstraßen zu patrouillieren. Sie lauschte dem Klacken ihrer Stiefel.
Wie sollte sie das Tor erreichen und an den beiden dort stationierten Wächtern vorbeikommen? Und gab es noch mehr Streifen in der Nähe?
Sie war nur kurze Zeit weg gewesen, aber wenn sie nicht bald zurückkehrte, vermisste man sie vielleicht – erst recht, wenn il’Sänke an die Tür ihres Zimmers klopfte und niemand antwortete. Vielleicht kam er an diesem Abend – sie hatte ihn oft genug um weitere Lektionen im Umgang mit dem Stab gebeten.
Wynn schluckte.
Wenn man sie außerhalb des Gildengeländes ertappte, trotz des von Premin Skyion verhängten Ausgehverbots … Vielleicht würde man ihr den Zugang zu den Texten dann wieder verweigern.
Wynn schlich an den Läden entlang und blickte um die Ecke.
Die Wächter waren der Kreuzung noch immer so nahe, dass sie nicht hinter ihnen zu der Straße huschen konnte, die parallel zur Alten Mauerstraße verlief. Sie blieb in der Nähe der Gebäude, bis sie eine schmale Gasse entdeckte, die in Richtung des Gildengeländes führte. Als sie die Gasse betrat, konnte sie ihr Ende erkennen, und jenseits davon einen Teil der Mauer auf der anderen Seite der Alten Mauerstraße. Sie musste hinter die Streife gelangen, um nach weiteren Wächtern Ausschau zu halten.
Und sie wusste noch immer nicht, wie sie an den beiden Männern beim Wachhaus vorbeigelangen sollte.
Wynn folgte dem Verlauf der Gasse und erreichte, etwa auf halbem Wege, eine Stelle, wo sie breiter wurde. Sie öffnete sich nach links, und für einen Moment verlor sie im Dunkeln die Orientierung.
Rhythmisches Kratzen kam aus der Finsternis. Wynn drückte sich mit dem Rücken an die gegenüberliegende Wand.
Rasch griff sie in die Tasche und holte den Kristall hervor. Sein Licht huschte über einen breiten Alkoven hinter dem Gebäude.
Hohe, schmale Fässer und einige Kisten standen neben drei abgenutzten Treppenstufen, die zu einer Hintertür emporführten. Eine Ratte lief übers Pflaster und verschwand unter der Treppe.
Wynn atmete mehrmals tief durch. Ihre Nerven lagen so blank, dass sie sich schon von Nagetieren erschrecken ließ. Leesil hätte sie deshalb sicher verspottet, nach all den Gefahren, die sie während ihrer Reisen überstanden hatten.
Sie fürchtete plötzlich, sich
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