Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
durch das Licht zu verraten, steckte den Kristall wieder ein und wandte sich dem Ende der Gasse zu.
Dort gab es nur Finsternis. Die hellere Stelle, wo die Gasse in die Alte Mauerstraße mündete, existierte nicht mehr. Unmögliche Schwärze füllte das Ende der Gasse.
Wynn wich zurück.
Die Dunkelheit geriet in Bewegung, wogte ihr entgegen und schien das wenige Licht zu schlucken, das von der Straße hinter ihr kam.
Chane folgte dem weiten Bogen der Straße. Er wusste, dass es für Wynn besser gewesen wäre, wenn er sie gemieden hätte. Doch ihre Fragen hatten deutlich gemacht, dass sie sich Hilfe wünschte; außerdem hatten ihm einige Andeutungen über ihr Leben in der Gilde zu denken gegeben.
Fühlte sie sich einsam unter den Weisen? So einsam, dass sie sich über den Anblick eines vertrauten Ungeheuers freute? Oder steckte sein Wunschdenken hinter diesem Eindruck? Er durfte sich keinen falschen Hoffnungen hingeben, dachte er, als er ins Grauland-Reich zu seiner Dachkammer zurückkehrte.
Das Tier in ihm regte sich, von Aufregung erfasst.
Seine Fingernägel wurden länger, als er stehen blieb und sich auf der leeren Straße abrupt umdrehte. Etwas berührte sein Selbst.
Seit er in dieser Stadt weilte, trug er die ganze Zeit über Welstiels »Ring des Nichts«, und je länger er ihn trug, desto mehr trübte sich seine Wahrnehmung. Aber jetzt merkte er, dass sich etwas falsch anfühlte. Das Tier in ihm spürte es ebenfalls und hob wachsam den Kopf.
Chane sah über die dunkle Straße, erweiterte seine Sinne … und aus Sorge wurde fast so etwas wie Panik.
Nach seinem vergeblichen Versuch, den Folianten an sich zu bringen, hatte sich die schwarze Gestalt, die durch Wände gehen konnte, auf Wynn konzentriert. Jetzt hatte die junge Weise die alte Schriftrolle bei sich, und wenn der Unbekannte noch immer nach ihr suchte …
Chane war so erleichtert von ihrer Bereitschaft gewesen, mit ihm zu reden, dass er ganz vergessen hatte, in welche Gefahr er sie dadurch brachte. Er hatte nicht einmal daran gedacht, ihr heimlich zur Gilde zu folgen, um sich zu vergewissern, dass ihr nichts zustieß.
»Wie dumm von mir!«, zischte er und lief in die Richtung zurück, aus der er gekommen war.
Die Finsternis verschwand plötzlich aus der Gasse.
Wynn sah wieder die etwas hellere Stelle dort, wo die Alte Mauerstraße begann. Trotzdem wich sie noch einen Schritt zurück.
Hatte sie die Schwärze tatsächlich gesehen? Oder hatte ihr die Furcht einen Streich gespielt?
Deutlich sah sie die alte Mauer und dahinter den Südturm des Hauptgebäudes der Gilde. Wynn holte langsam Luft, zornig auf sich selbst, und schloss beide Hände um den Stab.
»Du siehst Gespenster«, sagte sie sich und trat wieder vor.
Am Ende der Gasse spähte sie vorsichtig um die linke Ecke. Das Wachhaus befand sich hinter der Mauerwölbung, und Wächter waren von hier aus nicht zu sehen. Auf der rechten Seite war die Straße ebenfalls leer.
Wynn verließ die Gasse, wollte zur Mauer laufen und ihr folgen.
Zwanzig Schritte entfernt erhob sich eine schwarze Säule mitten auf der Straße.
Teile davon begannen zu wogen, wie schwarze Segel, die sich in einer Brise entfalteten.
Wynn blickte zum Südturm der Gilde.
Dort waren alle Schießscharten dunkel. Niemand sah, was hier unten geschah. Sie senkte den Blick – und zuckte zurück.
Eine schwarze Gestalt stand nur fünf Schritte vor ihr.
Der Stoff ihrer großen Kapuze reichte bis auf die Schultern. Der dunkle Mantel über dem ebenfalls dunklen Umhang wehte in einem Wind, der sonst nichts berührte. Erneut schloss Wynn beide Hände um ihren Stab und sah sich verzweifelt um.
Sie war nicht geschickt genug im Umgang mit dem Stab, um sich damit zu wehren – eigentlich konnte man in diesem Zusammenhang überhaupt nicht von Geschick reden. Für einen Moment dachte sie daran, in die Gasse zu fliehen, aber das wäre sehr dumm gewesen. Immerhin hatten die ermordeten Weisen in solchen Gassen gelegen. Sie dachte daran, dass es nicht nur um ihr Leben ging: Die Schriftrolle, die Chane ihr gegeben hatte, durfte auf keinen Fall diesem Fremden in die Hände fallen.
Sollte sie schreien, in der Hoffnung, dass die Wächter sie hörten?
Wynn wirbelte herum und lief los – vielleicht konnte sie die Streife erreichen, der sie zuvor ausgewichen war. Kalter Wind umwehte sie, zerrte an ihrem Mantel, riss ihr die Kapuze vom Kopf und zog an ihrem Haar.
Die schwarze Gestalt ragte erneut vor ihr auf. Wynn taumelte zurück, und der
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