Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
Wynn hielt es noch immer für seltsam, dass sich Schatten an dem Abend, als beide ihr zu Hilfe gekommen waren, nicht gegen Chane gewandt hatte. Seit sich die Majay-hì bei ihr befand, achtete Wynn immerzu auf ihre Gedanken, beziehungsweise darauf, woran sie sich erinnerte. Schatten verständigte sich allein mit der Erinnerungssprache, was bedeutete: Wynn konnte nie wissen, wann die Majay-hì einen Blick in ihre Erinnerungen warf, und sie wollte nicht, dass Schatten zum falschen Zeitpunkt die Wahrheit über Chane erfuhr.
Chane blieb stehen, hob die Hand und spreizte die Finger. Zuerst verstand Wynn nicht.
»Der Ring«, sagte er leise. »Welstiel hat ihn vor langer Zeit angefertigt und ihn ›Ring des Nichts‹ genannt. Ich habe ihn genommen, bevor Magiere Welstiel tötete. Er scheint ihn vor Magieres und Chaps Wahrnehmung geschützt zu haben. Er konnte auch jene abschirmen, die er berührte. Vermutlich war er mit seinen besonderen Fähigkeiten imstande, den Wirkungsbereich des Rings auszudehnen.«
Wynn schluckte und drängte aufsteigende Erinnerungen zurück, die ihr Magiere zeigen wollten, wie sie in der Höhle mit der Kugel über Chanes Taten sprach. Mit seinem Schwert hatte er Welstiel mehrere Finger abgeschnitten. Nachher hatte Wynn glauben wollen, dass es Chane darum gegangen war, Magiere zu helfen. Sie hatte es damals nicht wirklich glauben können, und jetzt …
Offenbar verriet ihr Gesicht Abscheu, denn Chane sagte:
»Ohne den Ring hätte ich nicht aus dem Schloss entkommen können. Du hast gefragt, und ich habe geantwortet. Ich habe dir genauer Antwort gegeben als du mir in Hinsicht auf den Stab und seinen Kristall. Ich nehme an, du hast dich sehr bemüht, ihn zu bekommen, ja?«
Wynn winkte ihn stumm weiter.
Sie näherten sich dem Tor, flankiert von den beiden Wachtürmen. Es war geschlossen, und Wynn drückte sich an die Mauer.
Sie konnte nicht vortreten und das Tor für Schatten öffnen – die Wächter beim Fallgatter hätten sie gesehen. Während sie noch überlegte, wie sie vorgehen sollten, lief Schatten an ihr vorbei zum Tor.
»Was macht das Tier da?«, zischte Chane.
Schatten blieb vor dem Tor stehen und sah zurück; ein Erinnerungsbild entstand vor Wynns innerem Auge. Es war eine ihrer eigenen Erinnerungen, wie sie an der Mauer entlanggelaufen war.
»Komm«, flüsterte die junge Weise und zog an Chanes Arm. »Sie weiß, was zu tun ist.«
Als Wynn den Südturm der alten Mauer erreichte, erklang Schattens Bellen durch die Nacht – die Majay-hì zog Aufmerksamkeit auf sich. Wynn hoffte, dass die Wächter sie aufs Gildengelände ließen.
Chane zögerte. Eine seltsame Anspannung zeigte sich in seinem Gesicht, als er dem Bellen lauschte.
Wynn zog ihn mit sich. Hinter der Mauerbiegung hielt sie nach Wächtern auf der offenen Straße Ausschau.
»Wie sollen wir auf die andere Seite gelangen?«, fragte sie leise.
»Indem wir die Mauer erklettern«, sagte Chane. Wynn starrte ihn verblüfft an, und er deutete zur südöstlichen Seite. »Geh zur Ecke, wo der Turm aus der Mauer ragt.«
Wynn blickte in die entsprechende Richtung. Es gab eine flache Ecke dort, wo sich die Mauer halbrund nach außen wölbte – es sah nach einem kleinen Turm aus. Früher, zu Lebzeiten der alte Königlichen, hatten Soldaten auf jenem offenen Turm stehen und auf Feinde außerhalb der Mauer schießen können. Dies wäre die letzte Verteidigungslinie gewesen, wenn es Angreifer geschafft hätten, die äußere Mauer zu überwinden, von der jetzt nur noch Reste übrig waren.
Wynn schlich an der Mauer entlang und verharrte dort, wo die Wölbung begann. Als Chane zu ihr kam, neigte sie den Kopf nach hinten und sah hoch.
Mauer und Turm ragten weiter auf als der Spieß eines Fußsoldaten, wie es bei jeder vernünftigen Festungsanlage der Fall sein sollte. Noch immer hörte sie Schattens Bellen in der Ferne.
»Hier klettern wir«, sagte Chane und nahm den Rucksack ab. »Du zuerst.«
Wynn sah ihn verärgert an. »Hier kann niemand hochklettern.«
Chane holte eine Rolle dünnes Seil aus seinem Rucksack, doch es fehlte ein Haken oder ein Gewicht am Ende. Ganz offensichtlich handelte es sich um etwas, das von seinen Reisen stammte und nicht Teil eines wohlüberlegten Plans war. Er knüpfte das Ende zu einer großen Schlinge, und Wynn beobachtete ihn staunend.
Chane legte den Rest des Seils um die Schlinge, blickte die Straße hinauf und hinunter, trat zurück und warf das Seil nach oben.
Die Schlinge verschwand in der Lücke
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