Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
zwischen zwei Zinnen, und Chane schnaufte verärgert. Den Grund dafür begriff Wynn, als er an dem Seil zog und es zurückfiel – er hatte versucht, die Schlinge über eine der Zinnen zu werfen.
»Hast du dir dies gut überlegt?«, fragte sie.
»Ich kann mich nicht daran erinnern, dass du einen eigenen Plan in petto hast«, erwiderte er.
Sie wusste nicht, was sie mehr ärgerte: sein Improvisieren oder der Umstand, dass ihr nichts Besseres einfiel.
Chane ging vor der Mauer in die Hocke und zog sein Schwert. Wynn beobachtete erstaunt, wie er den Mantel auszog, ihn um die Klinge wickelte, das Seil darum schlang und in der Mitte verknotete. Dann warf er den behelfsmäßigen Anker, und Wynn zuckte zusammen, als ein dumpfes Pochen von oben kam.
Mehr hörte sie nicht.
Sie drehte den Kopf und schaute um den Mauervorsprung herum nach Süden. Schatten bellte nicht mehr.
Chane hatte das Ende des Seils in der Hand und sah in dieselbe Richtung.
»Ist sie drinnen?«, flüsterte er.
»Keine Ahnung. Vielleicht.« Wynn bemerkte Chanes verärgerten Blick und fügte hinzu: »Ich glaube, sie muss mich sehen, um mir etwas mitteilen zu können. Wie dem auch sei … Beeilen wir uns.«
Chane zog an dem Seil, und diesmal straffte es sich, fiel nicht zurück.
Wynn hörte das Pochen von Stiefeln auf dem Kopfsteinpflaster, schob sich an der Wand entlang, stieß Chane an und deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Chane lauschte kurz und ging in die Hocke. Mit dem Daumen zeigte er über die Schulter und meinte seinen Rücken. Wynns Augen wurden groß, als sie an der Mauer emporsah.
Chanes Lippen bewegten sich und formten lautlose Worte. Nach oben, los!
Es war eine Sache, während der Ausgangssperre außerhalb des Gildengeländes angetroffen zu werden. Ganz anders sah es aus, wenn man sie bei dem Versuch ertappte, in die Gilde einzubrechen.
Wynn warf Chane einen bösen Blick zu, trat auf ihn zu und hielt sich an seiner Schulter fest. Den Stab platzierte sie quer zwischen ihrer Brust und seinem Rücken, schlang ihm dann die Arme um den Hals.
Chane stand auf, und Wynn verlor den Boden unter den Füßen.
Er stützte sich mit einem Fuß an der Wand ab, ergriff das Seil mit beiden Händen und kletterte nach oben.
Wynn hörte das Klacken der Stiefel auf dem Kopfsteinpflaster nicht mehr, als Chane sie beide nach oben brachte, so mühelos, als wären sie auf ebenem Boden unterwegs. Dicht vor der Lücke zwischen zwei Zinnen hielt er inne und flüsterte: »Kletter über mich hinweg.«
Wynn löste einen Arm von seinem Hals und ergriff damit ihren Stab. Sie zog sich hoch und spürte, wie Chane die linke Hand unter ihrem Fuß wölbte und ihr damit nach oben half. Es erstaunte sie, dass er ihr gemeinsames Gewicht allein mit seiner rechten Hand tragen konnte. Rasch kletterte sie weiter und kroch durch die schmale Lücke zwischen den beiden Zinnen.
Das vom Mantel umwickelte Schwert hatte sich hinter den Zinnen verhakt, und als sich Wynn mit der Absicht umdrehte, Chane zu helfen, war er schon oben. Er drückte sie nach unten, ging neben ihr in die Hocke und zog das Seil so schnell wie möglich hoch.
Erneut hörte Wynn Schritte.
Sie kamen von der Straße direkt vor der Mauer, als das letzte Stück des Seils die Zinnen erreichte. Wynn und Chane verharrten reglos und warteten darauf, dass der Wächter weiterging.
Aber es folgte Stille. Wer auch immer sich dort unten auf der Straße befand – er war stehen geblieben.
In Wynns Magengrube krampfte sich etwas zusammen.
Es dauerte viel zu lange, bis erneut Stiefel übers Kopfsteinpflaster klackten und sich zur südlichen Ecke entfernten. Chane richtete sich halb auf und spähte durch die Lücke zwischen den Zinnen. Dann nickte er Wynn zu.
Sie sah auf sein Schwert. »Das ist ein Problem. Weise tragen keine derartigen Waffen.«
Er nickte. »Ich werde es besser verstecken, wenn wir drinnen sind.«
Wynn blieb skeptisch. Wie sehr sich Chane auch bemühte – er konnte nicht in die Rolle eines Weisen schlüpfen. Und selbst ohne die gegenwärtigen Umstände kamen nach Einbruch der Dunkelheit nur selten Besucher zur Gilde. Wie würden die Weisen reagieren, wenn sie einen Unbekannten sahen, der sich um diese Zeit auf dem Gildengelände herumtrieb, noch dazu jemand mit auffallenden Verbrennungen?
Und was würde man von Wynn halten, wenn man sie zusammen mit dem Fremden sah?
Sie gingen an den Zinnen vorbei, und Wynn blickte immer wieder zum Turm hoch, doch in den Fenstern ging kein Licht
Weitere Kostenlose Bücher