Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
gewählt hatte.
Das Pflaster bestand aus roten Steinen, die in einem dunklen Weinrot glänzten, wenn sie feucht waren. Alle Läden in dieser Straße hatten bunte Fensterläden und Schilder. Wer hierherkam, erhoffte sich Erfüllung von Wünschen, die über die notwendigen Dinge des Lebens hinausgingen.
In diesem Viertel konnte man viele unterschiedliche Dinge kaufen, von Duftkerzen samt verzierten Ständern bis hin zu individuell angefertigten Teekannen und erlesenem Tafelgeschirr. Ein kleiner Buchladen etwas weiter die Straße hinunter arbeitete mit Meister a’Seatts Skriptorium zusammen, und Wynn roch die aromatischen Öle, die eine Parfümerie auf der anderen Straßenseite anbot. Es duftete nach Kardamom und Lavendel.
Wynn wünschte sich, wieder sechzehn und nicht erneut im Auftrag von Domin Tilswith unterwegs zu sein. Und sie wünschte sich, nichts von übernatürlichen Geschöpfen zu wissen, die aus dem Dunklen angriffen.
Noch konnte sie es sich anders überlegen und zur Gilde zurückkehren, in die Sicherheit ihres dortigen Zimmers. Sie konnte dies alles den Premins, Domins und der Stadtwache überlassen.
Wynn atmete tief durch und stieg die drei Stufen zur Tür des Skriptoriums hoch. Eine Glocke läutete, als sie die Tür öffnete.
Wärme erwartete sie, durchsetzt von Pergamentgeruch, und erinnerte sie daran, wie schnell in diesem Jahr der Herbst gekommen war. Niemand befand sich im Eingangsraum, nicht einmal hinter dem Tresen, wo Wynn zwei Türen sah, die in den rückwärtigen Teil des Ladens führten. Mehrere Stände präsentierten offene Bücher mit verzierten Schriften und wiesen damit auf die Dienste des Skriptoriums hin.
»Hallo?«, rief Wynn.
Sie überlegte, ob sie den hinteren Teil des Ladens betreten sollte, als die linke Tür hinter dem Tresen aufschwang.
Ein kleiner, hutzeliger Mann mit runder Brille erschien, wirkte müde und abgespannt. Überrascht von Wynns Anblick schloss er die Tür und musterte sie von Kopf bis Fuß.
»Kann ich dir helfen?«, fragte er.
Sein Ton deutete nicht auf große Hilfsbereitschaft hin, und in Gedanken übersetzte Wynn seine Worte mit: Was willst du?
Plötzlich wusste sie gar nicht mehr, was sie sagen sollte.
»Ich bin von der Gilde … «, sagte sie lahm.
Der Mann wölbte eine Braue, wie um zu erwidern: Das sehe ich.
»Ich möchte mit jemandem reden, einer Schreiberin«, fuhr Wynn fort. »Einem Mädchen mit dunkelbraunem Haar, leicht gekräuselt und lockig und … «
»Imaret?«
Den Namen kannte Wynn nicht, aber sie nickte trotzdem. Ein Teil der Strenge in den Zügen des Alten wich Trauer.
»Komm«, sagte er und öffnete die Tür, durch die er gekommen war. »Ich bin Meister Teagan. Imaret arbeitet hier hinten.«
Wynn hatte das Mädchen am vergangenen Abend weinen sehen, was darauf hinwies, dass es Jeremy oder Elias gekannt hatte. Weise in der Ausbildung schlossen manchmal Freundschaften mit Schreibern, denn solche Beziehungen konnten später nützlich sein. Und es war nicht ungewöhnlich, dass angehende Schreiber sich um eine Ausbildung bei der Gilde bewarben.
Meister Teagan nahm vermutlich an, dass Wynn gekommen war, um Imaret ihr Beileid auszusprechen. Sie ließ ihn in dem Glauben und trat auf die andere Seite des Tresens.
Der rückwärtige Teil des Skriptoriums unterschied sich sehr vom vorderen. Das große Hinterzimmer war angefüllt mit Tischen, Schreibtischen, Stühlen und hohen Schemeln. An mehreren Stellen standen hell leuchtende Laternen und sorgten für genug Licht, während die Schreiber inmitten von Papieren, Federkielen, Löschblöcken und Messern arbeiteten. Regale umgaben die Hintertür mit dem eisernen Riegel, gefüllt mit leeren Pergamenten, Tintenflaschen, Talk und Sand fürs Trocknen und anderen Dingen.
Derzeit arbeiteten hier nur wenige Schreiber, und Wynn brauchte nicht lange nach Imaret zu suchen.
Sie saß auf der anderen Seite des Raums in einer Ecke hinter einem kleinen Tisch, der zu ihrer zarten Statur passte. Allein das zeigte, dass sie hier eine Ausnahme war, von ihrem Alter einmal abgesehen. Welches seriöse Skriptorium ließ ein so junges Mädchen als Schreiberin für sich arbeiten?
Doch Imaret schrieb gar nicht.
Sie starrte auf ihren Tisch, der Federkiel in ihrer Hand verharrte über einem leeren Blatt Papier. Offenbar war sie tief in Gedanken versunken.
Wynn näherte sich, und Imaret sah auf. Ihre Augen wurden groß, und Wynn hob instinktiv den Zeigefinger vor die Lippen. Sie wollte nicht, dass Imaret nach Luft
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