Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
quadratischen Tisch saß, der ihm als Schreibtisch diente. Im Gegensatz zu dem Arbeitszimmer von Domin Hochturm war sein eigenes schlicht und ordentlich. Es befand sich in der Kaserne der Shyldfälches von Calm Seatt, und dort saß Rodian nun und blätterte in seinen Notizen.
In dem weiten Gelände um diese Festung gab es keine Gärten, nur Ställe, Kasernen und Unterkünfte für die Offiziere. Ein volles stehendes Heer war seit vielen Jahren nicht nötig gewesen, aber Grenzkavallerie und reguläre Truppen blieben einsatzbereit. Diese zweite Feste von Calm Seatt war das Herz des Militärs, mit Ausnahme der Weardas, der »Wachen«.
Die kleine Eliteeinheit schützte die Königlichen und war im letzten und größten Schloss der großen Stadt untergebracht. Es erhob sich auf einer Anhöhe unweit der Küste und gewährte Blick aufs offene Meer, den Hafen der Beranlômr-Bucht und die Halbinsel auf der anderen Seite der Bucht, wo die Zwerge von Dredhze Seatt lebten.
Die Weardas nahmen ihre Anweisungen nur von der königlichen Familie entgegen.
Rodian bekleidete einen hohen Posten, obwohl er noch recht jung war, und das weckte Neid bei den Shyldfälches. Die meisten Offiziere der regulären Truppen sahen in der Stadtwache eine Sackgasse für die berufliche Laufbahn, doch manche von ihnen erkannten die Vorteile, die sich jenseits des militärischen Lebens boten. In der Stadtwache konnte man Einfluss gewinnen, insbesondere in den Rängen der Shyldfälches.
Aber wie viel Einfluss man auch gewann: Er reichte nicht annähernd an den der Weardas heran.
Eines Tages würde Rodian jene Eliteeinheit kommandieren. Vorausgesetzt, die Gesegnete Dreieinigkeit brachte ihm weiterhin Wissen und Weisheit.
Vor nicht allzu langer Zeit hatte er seinen Posten bei den Regulären aufgegeben und einen geringeren Rang in der Stadtwache akzeptiert, unter dem Befehl des früheren Hauptmanns Balthild Wilkens. Anschließend stieg er mithilfe von ebenso zahlreichen wie korrekten Verhaftungen zum Leutnant auf. Er erwarb sich den Ruf, für seine Leute einzustehen, und knüpfte gute Beziehungen zu den anderen Offizieren und einigen Adligen. Er war sowohl auf seinen Dienst als auch auf seine Leistungen stolz.
Im Gegensatz zu seinem Vorgänger.
Hauptmann Wilkens hatte die Nichte von Lord Kregâllian geheiratet, die der königlichen Familie nahestand. Mit etwas Mühe und ein wenig Glück fand Rodian heraus, dass Wilkens in einem Geschäftsviertel der Stadt eine Wohnung für eine frühere Prostituierte eingerichtet hatte. Er besuchte sie, wann immer er Gelegenheit dazu fand, und vielleicht war er sogar öfter mit ihr zusammen als mit seiner eigenen Ehefrau, die auf einem fernen Lehensgut lebte. Nach einer kurzen Warnung von Rodian quittierte Wilkens den Dienst, zog sich in den frühen Ruhestand zurück und empfahl Rodian als seinen Nachfolger.
Niemand erfuhr von der Exprostituierten, denn Rodian achtete immer darauf, sein Wort zu halten. Soweit er wusste, sorgte sein Vorgänger auch weiterhin für ihren Unterhalt, aber ein solcher Mann war ungeeignet, das Wohlergehen der Bürger zu schützen.
Was seine Vorgehensweise betraf, fühlte Rodian weder Schuld noch Bedauern. Er hatte bereits unter Beweis gestellt, dass er wesentlich tüchtiger war als der frühere Hauptmann. Vom Glücksspiel hielt er sich ebenso fern wie von den Bordellen. Er trank nicht, abgesehen von einem gelegentlichen Krug Bier oder einem Glas Wein bei einem förmlichen Essen. Vollkommen abstinente Männer hielt man selten für vertrauenswürdig, und es galt, einen gewissen Nimbus zu wahren.
An diesem Abend saß er voller Sorge an seinem Schreibtisch.
Zwei junge Weisen waren vor einem Tag ermordet worden, und er hatte noch immer keine vielversprechende Spur. Es gab nur Verwicklungen und den ärgerlichen Nebel der Verschwiegenheit, der das geheimnisvolle Übersetzungsprojekt der Weisen umhüllte.
Eine Öllampe brannte auf dem Tisch, und in ihrem Schein blickte Rodian aus dem Fenster.
Der Abend war gekommen. Er hatte lange genug auf seinen Termin in Meister a’Seatts Skriptorium gewartet. Als er zur Tür ging und seinen Mantel vom Haken nahm, erschien plötzlich ein Gesicht vor seinem inneren Auge.
Wynn Hygeorht.
Ihr ungekämmtes Haar. Ihr zerknittertes graues Gewand. Die glatte olivfarbene Haut. Und ihr durchdringender Blick, als sie sagte: »Es ist Eure Pflicht, diesen Mordfall zu lösen.«
Rodian achtete nicht auf hübsche Mädchen oder Frauen. Er hatte gewisse Vorstellungen,
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