Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
die eine mögliche Ehe betrafen, und Gesicht und Gestalt spielten dabei eine untergeordnete Rolle. Tugend, gesellschaftliche Position, möglicher Reichtum und vor allem Bildung waren weitaus wichtiger bei einer Person, mit der er sich für den Rest seines Lebens verbündete. Doch keine Frau hatte jemals so mit ihm gesprochen wie die kleine, aus dem Ausland zurückgekehrte Reisende Weise. Verbrecher verfluchten ihn, Leute seinesgleichen flüsterten hinter seinem Rücken, aber Wynn Hygeorhts forschender, abschätzender Blick weckte Unbehagen in ihm.
Und sie wusste mehr über die Morde, als sie zugab, was auch für il’Sänke galt. Vielleicht wusste sie sogar mehr, als sie selbst ahnte. Rodian würde es herausfinden, wie immer.
Er öffnete die Tür und sah einen Schatten, der sich im Flur bewegte.
Sofort wich er zurück und senkte die rechte Hand zum Knauf des Schwerts.
Der Schatten trat vor, und im Laternenlicht erkannte er das Gesicht von Pawl a’Seatt.
»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte er. »Ich dachte, wir wollten heute Abend miteinander sprechen.«
Rodian wich beiseite, damit a’Seatt eintreten konnte. »Ja, aber in Eurem Laden.«
»Ich wollte Euch die Mühe ersparen, mein Skriptorium aufzusuchen.«
Die plötzliche Zuvorkommenheit erstaunte Rodian. Er hatte den Schluss von Imarets Geschichte nicht vergessen. Pawl a’Seatt war losgegangen, um die beiden jungen Weisen zu suchen. Das Mädchen hatte ihn gesehen. Und der Meisterschreiber hatte Imaret geschickt, um die Polizei zu verständigen.
»Nehmt Platz«, sagte Rodian und begnügte sich damit, dass a’Seatt zu ihm gekommen war. Dem Skriptorium konnte er später immer noch einen Besuch abstatten.
Er trat hinter den Tisch, holte sein Protokollbuch hervor und setzte sich, als a’Seatt vor ihm auf den Stuhl sank. Aufmerksam musterte er seinen Besucher und stellte fest, dass dem Gesicht des Meisterschreibers kaum etwas zu entnehmen war.
Das schwarze Haar reichte ihm auf die Schultern, durchsetzt von einigen grauen Strähnen. A’Seatt war sauber rasiert und recht hellhäutig, vermutlich aufgrund eines Lebens, das er größtenteils in geschlossenen Räumen verbracht hatte, bei Büchern und Pergamenten. Aber es schien Pawl a’Seatt recht gut zu gehen, denn er trug eine teure, perfekt geschnittene Wildlederjacke. Seine braunen Augen blickten sehr wachsam, und im Licht der Öllampe erschien ihre Farbe zu intensiv.
Rodian dachte über den Namen des Mannes nach.
»A’Seatt« bedeutete »von« Seatt, was der Name einer Person oder eines Ortes sein konnte und sich in diesem Fall vermutlich auf die Stadt bezog. Was bedeutete, dass es ein selbst gewählter Name war und nicht der numanische Nachname des Schreibers.
»Wie gut habt Ihr Jeremy und Elias gekannt?«, begann Rodian.
»Ich habe sie einige Male gesehen. Sie gehörten zu den Weisen, die Unterlagen brachten und die angefertigten Kopien zur Gilde zurücktrugen.«
»Wie lange befanden sie sich gestern Abend in Eurem Laden, bevor Ihr sie fortgeschickt habt?«
»Nur einige Momente.«
»Imaret sagte, Ihr hättet die beiden Jungen aufgefordert, mit einer Bestätigung der sicheren Ablieferung zurückzukehren. Ist das normal?«
Pawl a’Seatt zögerte nur einen Sekundenbruchteil, aber Rodian bemerkte es.
»Imaret hat Euch das gesagt?«, fragte er.
»Ist es ein normaler Vorgang?«
»Manchmal. Die Gilde bezahlt uns gut und hat darum gebeten, dass wir mit äußerster Sorgfalt vorgehen.«
»Was wisst Ihr über dieses Übersetzungsprojekt?«
»Nichts. Schreiber kümmern sich nicht um den Inhalt, nur um die Perfektion der Kopie.«
»Könnt Ihr lesen, was kopiert wird?«
Diesmal zögerte a’Seatt so lange, dass Rodian weitersprach, anstatt ihm Zeit zum Nachdenken zu geben.
»Ich habe erfahren, dass die Übersetzungen in Kurzschrift oder in einem von der Gilde entwickelten Code geschrieben werden. Könnt Ihr die Zeichen entziffern?«
»Ja«, sagte Pawl. »Aber es ist weder ein Code noch Kurzschrift. Die meisten Schreiber, die mit der Gilde zusammenarbeiten, werden im Lauf der Zeit mit den Symbolen vertraut. Doch das Begaine-Syllabar ist sowohl komplex als auch variabel. Ich möchte es noch einmal betonen: Wir befassen uns nicht mit dem Inhalt. Wenn Ihr mich fragt, welche Informationen die Ledertasche enthielt … Ich weiß es nicht. Und selbst wenn ich es wüsste: Ich könnte es Euch nur dann sagen, wenn ich von der Gilde die Erlaubnis dafür bekäme oder eine gerichtliche Anordnung
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