Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
Dachrand. Er musste zur Gilde zurück, bevor bekannt wurde, was hier geschehen war. Er wusste nicht, wie er dies alles Hochturm oder Skyion erklären sollte, ganz zu schweigen davon, dass die Stadtwächter eine andere Geschichte erzählen würden – eine, in der er fehlte.
Leise kletterte er zur höchsten Stelle des Dachs und sah noch einmal nach Südwesten, doch sein Widersacher blieb verschwunden. Als er sich umdrehen wollte, bemerkte er eine Bewegung.
Ein Schatten huschte mit wehendem Mantel über die Dächer des nächsten Häuserblocks.
Die andere Gestalt kam von Norden und verursachte nicht das geringste Geräusch. Als sie das Dachende eines zweistöckigen Gebäudes erreichte, sprang sie über die Straße hinweg aufs Dach eines kleineren Hauses. Mitten im Flug hielt sie mit einer Hand die Kapuze fest, damit sie nicht vom Kopf rutschte.
Nein, es war keine Kapuze, sondern ein Hut mit sehr breiter Krempe.
Ghassan beobachtete, wie die Gestalt den Weg nach Süden fortsetzte, in die Richtung, in die der Fremde mit dem Folianten verschwunden war.
Noch jemand hatte es auf den Dieb abgesehen. Doch jetzt gab es keine Zeit, darüber nachzudenken, und außerdem war er zu erschöpft. Mit leichten Schritten schlich Ghassan übers Dach und zur nächsten Straße, um zur Gilde zurückzukehren.
Rodian sprang über die Leichen hinweg und lief durch die Gasse, erreichte ihr Ende und die leere Straße, die sich daran anschloss. Laternen leuchteten dort, aber zwischen ihnen gab es weite Bereiche voller Dunkelheit. Zweimal drehte er sich um die eigene Achse, ohne jemanden zu sehen.
Niemand, der zu Fuß war, konnte so schnell entkommen.
»Hauptmann!«, rief Garrogh aus der Gasse. »Einer lebt noch!«
Rodian wich zurück, warf einen letzten Blick durch die leere Straße, drehte sich um und lief in die Gasse.
Garrogh kniete bei dem hageren jungen Mann im grauen Umhang. Lúcan stand weiter hinten, zusammen mit den anderen Wächtern. Wortlos starrten sie auf die Leichen hinab. Schließlich blinzelte Lúcan und ging in die Hocke.
Er zögerte kurz und streckte dann vorsichtig die Hand nach dem leuchtenden Kristall aus – vielleicht fürchtete er, sich an ihm zu verbrennen. Rodian wusste es besser, denn er hatte solche Kristalle schon des Öfteren bei der Gilde gesehen.
»Gib ihn mir«, sagte er.
Lúcan ergriff den Kristall und staunte, als er keine Wärme oder Hitze spürte. Er reichte den Kristall Rodian.
»Das Herz schlägt noch«, sagte Garrogh, ein Ohr an die Brust des jungen Weisen gelegt.
Rodian leuchtete mit dem Kristall und erkannte das Gesicht des Weisen. Dieser Junge hatte mit Wynn Hygeorht gefrühstückt, am Morgen nach dem Überfall. Er war so bleich wie das tote Mädchen, atmete aber noch, wenn auch ganz flach.
»Was ist mit ihr?«, fragte Rodian und deutete auf das Mädchen.
Garrogh schüttelte den Kopf. »Und der Foliant?«
Rodian antwortete nicht, legte zwei Finger an den Hals des Jungen und fühlte einen schwachen Puls. »Er braucht einen Heiler.«
»Nein«, widersprach Garrogh. »Bringen wir ihn zur Gilde. Dort kann man ihm besser helfen als in einem Hospital der Stadt. Erinnerst du dich an den Husten meiner Schwester? Ich habe sie zu den Weisen gebracht.«
Rodian hätte fast mit einer scharfen Antwort abgelehnt – auf keinen Fall wollte er, dass die Gilde den einzigen Zeugen in die Hände bekam und dann abschottete. Doch die Rettung eines Lebens war wichtiger als alles andere.
»Was ist passiert?«, rief jemand.
Rodian hob den Kopf und sah Meister Calisus und seinen Ponykarren vor dem Zugang der Gasse.
»Bleibt dort!«, rief er und sah Garrogh an. »Ich bringe den Jungen zur Gilde. Sorg dafür, dass niemand die Gasse betritt, bevor wir hier nicht alles gründlich untersucht haben. Lúcan, du und die anderen, ihr schafft die Leichen zur Kaserne.«
Der junge Wächter bewegte sich nicht und gab keine Antwort. Sein Blick ging zum blutigen Gesicht des größeren jungen Manns mit dem blauen Umhang.
»Hast du nicht gehört?«, schnauzte Rodian.
Lúcan richtete sich auf und lief durch die Gasse.
»Wer würde so etwas tun, und wie?«, flüsterte Garrogh.
Rodians Stellvertreter starrte auf das tote Mädchen.
»Was … ?«, begann Rodian und unterbrach sich.
Konnte er seinen Sinnen trauen? Hatte er wirklich gesehen, was er gesehen zu haben glaubte?
»Was hast du beobachtet?«, fragte er. »Als du mir gefolgt bist?«
»Einen Mann«, antwortete Garrogh und zog die Brauen zusammen. »Einen
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