Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
Gildenmitglieder standen auf und kamen näher.
»Hier«, sagte Hochturm.
Er näherte sich dem Tisch von der anderen Seite und sah auf Nikolas hinab. Il’Sänke legte dem jungen Weisen die Hand auf die Brust und hielt ihm das Ohr an den Mund. Dann sah er zu Hochturm und nickte kurz, woraufhin der Zwerg erleichtert seufzte.
Wynn ließ den angehaltenen Atem entweichen. »Wo sind Miriam und Dâgmund?«, fragte sie noch einmal.
Rodian sah sie nicht einmal an. Sein zorniger Blick blieb auf Hochturm gerichtet.
»Sie sind tot«, sagte er scharf. »Sie wurden in einer Gasse unweit des Skriptoriums ›Feder & Pergament‹ ermordet.«
Wynn fühlte sich von eisiger Kälte erfasst.
Il’Sänke ergriff den Arm eines nahen, in Braun gekleideten Lehrlings. »Hol Premin Adlam oder Meister Bitworth … oder irgendeinen anderen Heiler aus dem Hospiz. Schnell!«
Rodians Blick verharrte auf Hochturm. »Der Foliant ist verschwunden«, fügte er hinzu.
Hochturm sah schließlich auf und wirkte nicht überrascht.
Wynn näherte sich dem Tisch und schob Gildenmitglieder beiseite, die ihr den Weg versperrten. Nikolas’ Augen waren geschlossen, das Gesicht fast weiß. Grau gewordene Haarsträhnen hingen zur Seite. Nirgends waren Wunden zu erkennen.
Sie wandte sich an Rodian.
»Wie bei den Anderen«, flüsterte sie. »Wie bei Jeremy und Elias.«
Der Hauptmann trat näher zum Tisch. »Ja. Beziehungsweise wie bei einem von ihnen.«
Wynn sah erneut ins bleiche Gesicht des Jungen auf dem Tisch. Wenn beide gestorben waren, aber nur einer auf jene Weise …
»Jemand tötet Gildenmitglieder, weil er es auf Eure Folianten abgesehen hat«, knurrte Rodian, und seine Worte galten Hochturm. »Und ich will von Euch den Grund dafür hören.« Er deutete auf Wynn, ohne den Blick vom Zwerg abzuwenden. »Was steht in den Texten, die sie mitgebracht hat?«
Wynn zuckte zusammen, als sie sich plötzlich im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit fühlte. Hochturm starrte den Hauptmann an.
»Chlâyard … nein!«, zischte il’Sänke.
Für einen Moment dachte Wynn über das eine Wort nach. Es bedeutete »hoher Turm«.
Es war lange her, seit sie zum letzten Mal gehört hatte, wie jemand Hochturms Namen auf Zwergisch aussprach. Ihr Blick huschte zwischen Hochturm und il’Sänke hin und her. Was spielte sich zwischen diesen beiden Männern ab?
»Was steht in den Texten?«, rief Rodian. Seine Stimme hallte laut durch den Gemeinschaftsraum. »Warum habt Ihr das Leben von Gildenmitgliedern aufs Spiel gesetzt, um das Geheimnis zu schützen?«
Hochturms Gesicht verfärbte sich.
»Hauptmann!«
Wynn drehte sich um, als die scharfe Stimme einer Frau erklang. Herzogin Reine und drei Weardas standen im Haupteingang.
»Ich habe von dem neuen Verbrechen gehört und mich sofort auf den Weg hierher gemacht«, fügte sie etwas sanfter hinzu.
Diesmal trug sie nicht den geschlitzten Rock. Unter dem meergrünen Mantel der königlichen Familie zeigten sich eine Lederweste über einer weißen Bluse und eine Hose ebenfalls aus Leder, deren Beine unten in Reitstiefeln steckten. In dieser Aufmachung sah sie mehr wie eine Faunier aus als ein Mitglied der Âreskynna-Familie. Ihr Blick wanderte durch den Saal zum reglosen Nikolas auf dem Tisch.
Wie hatte sie so schnell von der Tragödie erfahren?
Rodian presste die Lippen zusammen. Das plötzliche Erscheinen der Herzogin schien ihn zu verblüffen.
»Hoheit … «, sagte er und verbeugte sich kurz. »Wie … ?«
Wynn spürte den Beginn eines geistigen Wettstreits.
»Wir müssen Nikolas zum Hospital bringen«, drängte sie. »Lasst uns keine Zeit vergeuden.«
Hochturms Hände waren zu Fäusten so groß wie Vorschlaghämmer geballt, aber er schien die Vernunft in ihren Worten zu hören. Rasch schickte er die Lehrlinge und Initiaten fort.
»Sorgt dafür, dass der Junge die Hilfe bekommt, die er braucht!«, sagte Rodian scharf. »Anschließend werdet Ihr meine Fragen beantworten.«
Hochturm schnitt eine finstere Miene und stapfte ums Tischende. Il’Sänke legte ihm die Hand auf die Schulter, aber davon ließ sich der Zwerg nicht aufhalten. Il’Sänke wankte zur Seite, und Wynn sorgte sich plötzlich um Rodians Sicherheit.
»Hauptmann … « Herzogin Reine trat zwischen Rodian und Hochturm. »Diese Leute haben genug gelitten. Weitere Gespräche sollten warten.«
Hochturm blieb stehen, atmete zweimal tief durch und wandte sich dann ab.
»Ich bitte um Entschuldigung, Lady«, sagte Rodian kühl. »Aber die
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