Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
hochgewachsenen Mann in einem schwarzen Mantel. Warum?«
Rodian hob den noch lebenden jungen Weisen vorsichtig hoch und trug ihn zum Ponykarren. Zorn brodelte in ihm, als er über die Leiche des Mädchens hinwegtrat. Die königliche Familie schätzte die törichten, irregeleiteten Weisen. Jetzt waren zwei weitere von ihnen tot, und vielleicht starb bald ein dritter. Aber ganz gleich, wer dieses Verbrechen begangen hatte, die letztendliche Verantwortung trugen Hochturm und Skyion. Sie hatten die Augen vor der Gefahr verschlossen und weitere Kuriere in die Nacht geschickt.
Diesmal würde Rodian die Wahrheit aus ihnen herausholen.
Wynn wartete noch immer im Gemeinschaftsraum, aber inzwischen war zu viel Zeit vergangen. Nur noch wenige Gildenmitglieder hielten sich in dem Saal auf, lasen oder sprachen leise miteinander. Wynn suchte nach einer Möglichkeit, sich zu beschäftigen und abzulenken.
Wenn sie einfach nur tatenlos dasaß und Domin Hochturm oder Premin Skyion hereinkamen, verzichteten sie bestimmt nicht auf einen Kommentar. Sie versäumten nie eine Gelegenheit, seltsames Verhalten von Wynn zur Kenntnis zu nehmen. Aber sie wagte es nicht, den Gemeinschaftsraum auch nur für kurze Zeit zu verlassen, etwa um ein Buch aus ihrem Zimmer zu holen.
Das Abendessen war längst vorbei, und die Kuriere waren noch immer nicht zurück. Warum brauchten sie so lange?
Wynn unterbrach ihre Grübeleien, als sie von der Tür des Hauptgebäudes ein lautes Pochen hörte. Sie sprang auf, lief zum Eingang des Gemeinschaftsraums und hoffte, Nikolas, Miriam und Dâgmund zu sehen.
Stattdessen näherte sich Domin il’Sänke und strich seine Kapuze zurück.
»Wynn«, sagte er, und sein Lächeln wirkte gezwungen. »Du scheinst enttäuscht zu sein, mich zu sehen.«
»Wo bist du gewesen?«, fragte sie unverblümt.
Il’Sänkes Lächeln verschwand. »Ich habe in der Küche früh zu Abend gegessen, vielleicht zu viel. In meinem Alter braucht man nach einer üppigen Mahlzeit Bewegung, bevor man sich anderen Dingen widmet.«
»Entschuldige.« Wynn kam sich plötzlich dumm vor. »Nikolas, Miriam und Dâgmund sind noch nicht zurück. Nach dem, was gestern Abend geschehen ist … «
Sie sprach den Satz nicht zu Ende, als sich il’Sänkes Gesichtsausdruck erneut veränderte. Sein linkes Auge zuckte, und er befeuchtete sich die Lippen.
»Die Folianten gehen dich nichts an«, sagte er, und dabei war seine Stimme kaum lauter als ein Flüstern.
Wynn biss die Zähne so fest zusammen, dass die Kiefer schmerzten. Jetzt erinnerte sie auch il’Sänke daran, dass sie nichts mehr mit den Texten zu tun hatte. Und sie hatte ihn für ihren einzigen Verbündeten in der Gilde gehalten.
»Verzeih mir«, brummte er, und sein Blick schweifte durch den Saal. »Ein langer Tag liegt hinter mir, und ich muss mich noch um eine Sache kümmern.«
Wynn drehte den Kopf.
Domin Hochturm stand im Seiteneingang und sah nicht sie an, sondern jemand anders, vielleicht il’Sänke. In seiner wie üblich mürrischen Miene gab es etwas Erwartungsvolles, doch dann kam es im Gesicht des Zwergs zu einer plötzlichen Veränderung.
Hochturm schien zu erschrecken.
Wynn beobachtete, wie er tief durchatmete und die Schultern hängen ließ. Als sie den Blick auf il’Sänke richtete, war das Gesicht des älteren Sumaners steinern geworden. Sie fragte sich, was gerade zwischen Hochturm und il’Sänke geschehen war, zwischen zwei Männern, die nie einen Hehl daraus gemacht hatten, dass sie sich nicht mochten.
Ein Donnern hallte durch den Flur jenseits des Haupteingangs.
Wynn hörte, wie draußen ein Flügel des Tors gegen die Wand schlug. Sie wollte zum Haupteingang, um zu sehen, wer sich so ungestüm Zugang verschaffte, doch il’Sänke hob den Arm.
Sie sah ihn an, doch sein Blick ging zum Flur hinter dem Eingang, und dort erschien Hauptmann Rodian.
Mit sehr ernster Miene trug er den reglosen Nikolas Columsarn in den Armen.
Il’Sänke war das erste hochrangige Gildenmitglied, das er sah, und er konzentrierte seine ganze Aufmerksamkeit auf ihn.
»Holt einen Eurer Ärzte!«, rief er.
Il’Sänke eilte ihm entgegen. »Überlasst ihn mir, Hauptmann.«
Der große Sumaner nahm Nikolas von Rodian entgegen und trat mit ihm zum nächsten Tisch.
»Wo sind Miriam und Dâgmund?«, fragte Wynn.
Rodian achtete nicht auf sie und sah sich im Gemeinschaftsraum um. »Wo sind Hochturm und Skyion?«
Il’Sänke legte Nikolas vorsichtig auf den Tisch. Die anderen anwesenden
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