Dhampir
schloss die Augen und sah das Meer der Toten, das er im weiten Hügelland zurückgelassen hatte. Der Feind war den Truppen des unsicheren Bündnisses an diesem Tag fast fünf zu eins überlegen gewesen.
Auch diesmal antwortete er nicht. Er brachte es nicht fertig, in die Gesichter der Lebenden zu sehen, und selbst wenn er die Augen öffnete, sah er nur die der Toten.
Die feindlichen Horden waren entlang der Ostküste des zentralen Kontinents nach Norden gestürmt. Als es dämmerte, hatte er die Nachricht erhalten, dass Bäalâle Seatt einer unbekannten Katastrophe zum Opfer gefallen war. Die Mutterstadt der Zwerge in den Bergen nahe der sumanischen Wüste war lange belagert worden. Was auch immer dort passiert sein mochte: Erste Meldungen deuteten darauf hin, dass keine der beiden Seiten überlebt hatte.
Die Zahl der Feinde schien endlos zu sein, und die einzigen Verteidiger im Westen waren Sorhkâfarés Kämpfer. Nur sie konnten verhindern, dass der Feind landeinwärts nach Aonnis Lhoin’ n – Erste Lichtun g – vorstieß, Zuflucht und Heimat seines Volkes.
Sorhkâfaré hörte, wie sich draußen die Schritte entfernten. Endlich ließ man ihn in Ruhe.
Der Schlaf kam nicht, und er wollte auch gar nicht schlafen. Noch immer sah er Tausende, die sich unter der heißen Sonne gegenseitig abschlachteten, und längst konnte er nicht mehr zwischen den Schreien von Freund und Feind unterscheiden. An diesem Tag hatte er seinen Zorn und sogar die Furcht auf dem Schlachtfeld verloren.
Er sah, wie zahllose Gestalten mit pelzigen, schuppigen, dunkel- oder hellhäutigen Gesichtern fielen, aber es kamen immer mehr. Die verstümmelten Körper schienen miteinander zu verschmelzen und wurden zu einer anonymen Mass e … bis auf den letzten Kobold, der tot zu seinen Füßen lag, als alles vorbei war. Die lange Zunge hing aus der hundeartigen Schnauze, lag im blutgetränkten Schlamm.
Sorhkâfaré hörte einen Schrei irgendwo draußen im Lager, gefolgt von einem Stöhnen. Kurz darauf schrie noch jemand.
Die Verwundeten und Sterbenden bekamen die Hilfe, die möglich war, aber dadurch litten sie nur noch mehr. Wer wollte einen weiteren Tag wie diesen erleben?
Weitere Schreie und Rufe. Eilige Schritte. Das Klirren von Stahl.
Jemand zog an der Plane im Eingang des Zelts.
»Lasst mich in Ruhe«, sagte Sorhkâfaré müde und blieb liegen.
Die Plane wurde beiseitegerissen.
Eine Silhouette zeichnete sich vor dem orangeroten Schein von Lagerfeuern ab, und sie deutete auf einen Menschenmann hin. Das Gesicht des Mannes konnte Sorhkâfaré nicht erkennen. Das Licht schuf matte Reflexe auf der stählernen Rüstung. Die Haut schien dunkel zu sein, wie die eines Sumaners.
Sorhkâfarés Argwohn erwachte.
Unter den Feinden waren etwa ebenso viele Menschen gewesen wie bei den Truppen der Verbündeten. Die meisten menschlichen Helfer des Feindes waren Sumaner. Hatte sich einer von ihnen unerkannt Zugang zum Lager verschafft? Sorhkâfaré setzte sich auf.
Der Arm des Mannes, der die Zeltplane beiseitegeschlagen hatte, endete am Handgelenk. Die andere Hand war leer.
Niemand lief mit einer solchen Wunde umher. Sorhkâfaré hörte einen weiteren Schrei im Lager.
Der verstümmelte Mann rannte mit einem kehligen, irre klingenden Zischen auf ihn zu.
Sorhkâfaré rollte sich zur anderen Seite des Zelts und zog sein Kampfmesser. Der Angreifer fiel aufs leere Bettzeug, und als er sich umdrehte, stieß Sorhkâfaré mit dem Messer zu.
Die Klinge drang über dem Kragen des Kettenhemds in den dunklen Hals, und der Mann erschlaffte.
Sorhkâfaré sprang auf die Beine und lief aus dem Zelt. Im Schein der Lagerfeuer suchte er nach einem Offizier, den er auffordern konnte, die Wachen am Rand des Lagers zu verstärken. Einige letzte Schreie verklangen.
Das nächste Feuer war gelöscht; Rauch stieg von der Asche auf. Viele Fackeln fehlten, und Dunkelheit hatte sich im Lager ausgebreitet. Der Mond stand für Sorhkâfarés Elfenaugen noch nicht hoch genug, aber er glaubte, Gestalten zu erkennen, die von Zelt zu Zelt huschten. Gelegentlich vernahm er gedämpftes Ächzen oder einen kurzen Schrei.
»Sorhkâfaré … wo bist du?«
Jemand näherte sich zwischen den Zeltreihen, langsam und zielstrebig. Er kannte die Stimme. Sie ging ihm auf die Nerven, wann immer er sie hörte.
Kædmon, Kommandeur der Menschen in Sorhkâfarés Streitmach t – oder was davon noch übrig war.
Sorhkâfaré hatte nicht die Kraft für eine weitere Auseinandersetzung mit ihm.
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