Dhampir
Sgäile stieß ihr von hinten das Knie gegen ein Bein, drückte und brachte sie zu Fall, dann hielt er sie auf dem Boden fest.
»Schluss damit!«, rief er, die Hände fest um Én’nishs Arme geschlossen. »Was hat das zu bedeuten? Was habt ihr getan?«
»Der Älteste Vater hat befohlen, sie zu töten!«, zischte Én’nish. »Und du hinderst uns daran, seinen Befehl auszuführen! Sie haben den Tod verdient!«
»Und Brot’an ebenfalls?«, fragte Sgäile. »Nein! Der Älteste Vater hätte ni e … «
Er sah zu Fréthfâre, die blutend auf dem Boden lag. Nein, so etwas konnte der Älteste Vater nicht befohlen haben.
Sgäile erinnerte sich daran, mit welchem Nachdruck sich Fréthfâre bei der Versammlung für die Anklage eingesetzt hatt e – an ihrer Feindseligkeit den Fremden gegenüber bestand kein Zweifel. Aber der alte Patriarch, das Oberhaupt der Anmaglâhk, würde bestimmt nicht sein Wort brechen. Nein, dies war Fréthfâres Idee gewese n – sie allein trug die Verantwortung dafür. Warum sonst hatte sie nur die um ihren verlorenen Partner trauernde Én’nish mitgenommen, obwohl ihr klar gewesen sein musste, dass sie es mit mehreren Gegnern zu tun bekommen würde, und außerdem auch noch mit Brot’ân’duivé?
Sgäile spürte, wie sich in seinem Innern Kälte ausbreitete.
»Sgäilsheilleache!«, rief sein Großvater und knöpfte Fréthfâres Mantel auf. »Befrag Én’nish später. Fréthfâre ist schwer verletz t – ich brauche deine Hilfe!«
»Ich sehe den Boden der Schlucht«, sagte Chane.
Welstiel zitterte und antwortete nicht. Nach mehr als zwei Jahrzehnten der Vorbereitungen und der Suche war er dem Ziel nahe. Bald würde es keine Nächte des Hungers mehr geben; bald war es nicht mehr nötig, im Schutz der Dunkelheit irgendwelche Herumtreiber zu töten und ihr Blut zu trinken. Er freute sich auf eine Ewigkeit ruhiger Kontemplation, sobald die Kugel sich in seinem Besitz befand.
Welstiel schickte einen stummen Dank an seine Traumherrin.
Ohne Magiere war er vielleicht nicht in der Lage, die Burg zu betreten, aber die Traumherrin lenkte noch immer seine Schritte. Er würde einen Weg finden, Magiere seinem Willen zu unterwerfen und sie zu zwingen, ihm zu helfen.
Welstiel hatte die Situation wieder unter Kontrolle.
»Vorsichtig«, sagte Chane mit rauer Stimme. »Die letzten Stufen sind ausgetreten und sehen nicht besonders stabil aus.«
Welstiel stützte sich an der Schluchtwand ab. Er konnte es gar nicht abwarten, die sechs Türme der Burg seiner Träume zu sehen, ihr gewölbtes Tor, die schwarzen Raben und all die anderen Details, die ihm seine Träume offenbart hatten.
Chane brachte die letzten Stufen hinter sich und erreichte den Boden der Schlucht. Überall lagen Felsen und Steine, von Eis und Schnee überzogen. Welstiel folgte seinem Reisegefährten und trat aufgeregt an ihm vorbei.
Zuerst gab es kaum etwas zu sehen. Er kletterte über mehrere Felsen hinweg, bis er weiter vorn so etwas wie einen Weg im Schnee erkannte. Welstiel hörte Chane hinter sich, wartete aber nicht auf ihn, eilte weiter und rutschte mehrmals aus. Der We g – wenn es einer wa r – führte zur rechten Seite der Schlucht.
Immer wieder verharrte Welstiel im Dunkeln und schaute sich um, sah aber nur Schnee, der sich hier unten auf dem Boden der Schlucht angesammelt hatte. Er hob den Blick, auf der Suche nach Hinweisen.
Eine ins Felsgestein gehauene Treppe führte an der rechten Schluchtwand in steilen Serpentinen empor.
»Nein«, hauchte Welstiel und wankte zwei Schritte zurück.
»Was ist los?«, kam Chanes krächzende Stimme aus der Nacht.
Welstiel sah zu dem kleinen Gebäude hoch, das weit oben auf einem Felsvorsprung stand.
Eine Laterne hing davor an einem Pfahl, und ihr Licht fiel auf eine kleine Tür und mehrere hölzerne Fensterläden. Das Gebäude war nicht höher als zwei Stockwerke und sah eher aus wie eine alte, vergessene Baracke.
Hier gab es keine Burg mit sechs mächtigen Türmen, auch keine Raben. Das Gebäude dort oben hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit der Feste aus seinen Träumen.
»Nein«, flüsterte er erneut.
Aufkeimende Wut drängte Enttäuschung und Kummer immer mehr zurück. Welstiel wirbelte herum und hob die Faust zum dunklen Himmel.
»Das ist alles?«, rief er.
All die Nächte, die er hoffnungsvoll durch Schnee gestapft war, all die mühevoll überwundenen Hinderniss e … Hatte sich die Traumherrin einen Scherz mit ihm erlaubt? Schlief sie, lachte sie, wartete sie
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