Diabolos (German Edition)
der, den wir im Museum gesehen haben«, staunte Heather.
In Iraklion hatten sie zum Leidwesen Brandons den halben Tag im Archäologischen Museum verbracht. Brandon konnte sich angesichts der Fülle der Ausstellungsstücke an keinen Stier mehr erinnern. Dieser hier, das musste er zugeben, war allerdings imposant. Janos wartete, bis sich die Wogen der Bewunderung wieder geglättet hatten und zog dann wie ein Zauberer den Vorhang zur Seite. Der Trick funktionierte. Mit weit aufgerissenen Augen blickte das Paar in einen Saal, der nur aus goldenem Licht zu bestehen schien. Unzählige Kerzen und Fackeln, dazu drei Bodenfeuer, verbreiteten ein Funkeln, das sich in den Farben der Fresken, Vasen und Amphoren unendlich oft widerspiegelte. Sprachlos vor Staunen betraten Heather und Brandon den Tempelbereich. Lebensgroß gemalte Krieger mit Helmen und Doppeläxten bewaffnet blickten ihnen grimmig von den Wänden entgegen, leichtgeschürzte Sklavinnen reichten Wein und Obst. Über ihnen flogen klauenbewehrte Harpyien. Heather war, als habe sie eine fremde Welt betreten; wohin man auch schaute, überall ertrank das Auge in üppigen Formen und leuchtenden Farben. Der oder die Künstler hatten die Wände und Decken abwechselnd mit Alltagsszenen und Bildern aus der Mythologie bemalt. So erkannte man eine Stierjagd und Bauern auf dem Feld, aber auch einen geflügelten Pegasus, sowie Darstellungen der Göttinnen Athena und Artemis. Vor dem Bild einer dreiköpfigen Schlange blieb Heather stehen. Das Untier hielt mit seinem Leib einen Mann umschlungen und drang mit den drei Mäulern gleichzeitig in das Auge, den Mund und die Brust des Opfers ein. Die klaren Linien und der Verzicht auf übersteigerten Pathos ließen den Kampf wie eine reale Begebenheit erscheinen; seine Grausamkeit wurde dadurch aber nur noch um ein Vielfaches erhöht.
»Ich glaub', ich träume«, murmelte Brandon ein Stück hinter ihr. »Diese Schätze. Ich komme mir vor, wie Ali Baba in der Räuberhöhle. Schau' dir nur diese verrückt gemusterten Krüge und Vasen hier an. Überall sind Schlangen und Fratzen zu sehen. Vielleicht wurden die Dinger ja mit Süßigkeiten für Halloween gefüllt.«
Brandons Stimme gab ihr endlich die Kraft, ihren Blick von dem Fresko zu lösen. Erleichtert trat Heather in den Schein des mittleren Feuers, das von zwei dickbäuchigen Amphoren eingerahmt wurde. Eines der Gefäße zeigte einen sich aufbäumenden Stier, um dessen Kopf und Hörner sich ebenfalls viele kleine Schlangen gewunden hatten. Auch hier stand der Sieger längst fest. Mehrere der giftig grünen Reptilien hatten sich bereits in der Kehle des hilflosen Bullen verbissen. Nervös eilte Heather weiter; sie lief in die falsche Richtung, aber es störte sie kaum. Die Bewegung an sich bot ihr einen imaginären Schutz. Stillstand bedeutete dagegen Gefahr und Verletzbarkeit.
Je tiefer sie in die Halle vordrang, umso deutlicher zeigte sich nun das Symboltier der Großen Göttin. In jedem Winkel der Höhle glaubte sie die Windungen schuppiger Leiber erkennen zu können. Selbst zu ihren Füßen krochen mit einem Mal züngelnde Vipern auf einem Bodenmosaik. Heathers Unbehagen erreichte einen kritischen Punkt. Als sie in ihrer kopflosen Hast mit Janos zusammenstieß, entlud sich ihre Anspannung in einem befreienden Schrei. Der kleine Führer, der sich seit einiger Zeit auffallend still verhalten hatte, schien kaum weniger überrascht zu sein.
»Alles okay, alles okay!«, beteuerte er mit erhobenen Händen. »Nicht Angst, okay?«
Seine rührend, unbeholfene Art nahm der Situation augenblicklich die Spannung.
»Keine Angst. Okay«, antwortete Heather. Sie konnte bereits wieder lächeln. Brandon hatte sich gerade einige Fresken auf der gegenüberliegenden Seite betrachtet und hastete nun quer durch den Saal auf sie zu.
»Was ist los? Warum hast du geschrien?«, fragte er atemlos.
»Alles okay«, wiederholte sie. »Nichts passiert. Ich habe Janos nur für einen Höhlengeist gehalten.«
Ihr Führer nickte zustimmend. »Höhle viel wunderbar, okay?«, wollte er wissen.
»Wunderbar und bizarr«, bestätigte Brandon. »Ich habe dort hinten Bilder gesehen, die selbst die abgebrühtesten Gemüter verschrecken könnten. Eine Art antike Mischung aus Dali und Hieronymus Bosch. Total irre.«
Heather wünschte sich, sie läge wieder unter den Palmen von Vai. Weit entfernt von dieser flackernden, kühlen Unterwelt. Sie hatte genug gesehen, mehr als genug. Brandons Anspielungen überstiegen
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