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Diagnose zur Daemmerung

Diagnose zur Daemmerung

Titel: Diagnose zur Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cassie Alexander
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immer wieder gesagt hast, du würdest jemanden hören, dachte ich erst, es wäre irgendein Kind, das hier am Ausgang verprügelt wird.« Er schaltete die Taschenlampe ein. »Jetzt gehen wir wieder dahin zurück, wo wir hergekommen sind, nur unterirdisch. Pass auf, hier liegen überall Nadeln rum.«
    Wir kamen nur langsam voran, da wir geduckt gehen mussten und bei jedem Schritt erst einmal über den Boden leuchteten. Es roch nach Metall und Rost, was an den Geschmack von frischem Blut erinnerte. Auf dem Boden lagen kleine Zweige, bei denen ich mich ernsthaft fragte, von wo sie wohl angeschwemmt worden waren. Wo war denn hier der nächste Park? Außerdem sah ich Kondome, verbogene Löffel und hin und wieder eine Patronenhülse. Verschiedene Graffiti warnten uns, dass wir uns im Revier der Drei Kreuze befanden, dann in dem der Reinas, dann folgten andere Namen, die ich nicht lesen konnte, weil sie so verblasst waren. Doch es waren so viele unterschiedliche Bezeichnungen, dass eines klar wurde: Hier unten herrschte niemand so richtig.
    »Warum weint sie eigentlich, die Weinende in den Geschichten?«, flüsterte ich und lauschte auf das feuchte Zischen, das uns umgab. Es klang, als würde man einer Lunge beim Atmen zuhören.
    »Jemand hat ihre Kinder getötet.«
    »Die Eselsfrau?«
    »Quatsch. Die Eselsfrau spukt doch nachts unter der Eisenbahnbrücke. Bei der ist das anders: Jemand hat ihren Esel erschossen, und dann ist sie selbst einer geworden, oder so. Was weiß denn ich?« Er drehte sich zu mir um und hielt die Taschenlampe so unter das Kinn, dass sein Gesicht in gruselige Schatten getaucht wurde, als er fortfuhr. Er sprach betont langsam, als wäre es schwierig, einem so phantasielosen Wesen wie mir etwas zu erklären. » La Llorona hat sich in jemanden verliebt, der ihre Liebe nicht erwiderte. Sie hat ihre Kinder umgebracht, um bei ihm sein zu können, aber er hat sie trotzdem nicht geliebt. Da hat sie Selbstmord begangen, und jetzt streift ihr Geist durch das Wasser und holt sich kleine Kinder. Und diese Kanäle hier verwandeln sich manchmal in echte Flüsse.« Er richtete den Lichtstrahl wieder auf den Boden und ging weiter.
    »Aber das ist doch nur eine uralte Geschichte, die irgendwo weit, weit weg passiert ist.«
    »Wie kommst du darauf?«
    »Es ist doch höchst unwahrscheinlich, dass sie gerade heute in einem Abflusskanal in einer Stadt spukt, wo im Winter sogar Schnee fällt.«
    Olympio warf mir einen finsteren Blick zu. »Wir kehren besser um. Ich höre ohnehin nichts«, beschloss er, doch in diesem Moment zog das Heulen fast schon spürbar an uns vorbei und hallte durch den engen Tunnel. Ich stieß einen erschrockenen Schrei aus, Olympio fuhr heftig zusammen, und die Taschenlampe landete scheppernd auf dem Boden des Kanals.
    »Schhhh!« Ich tastete nach der Lampe.
    »Weg hier, weg hier, weg hier …« Der Junge zerrte an mir und versuchte gleichzeitig, mir die Taschenlampe zu entreißen.
    »Jetzt warte doch mal, okay? Wer ist da?«
    »Una abuela«, schallte es zurück. »¡Una abuela en la necesidad de!«
    Ich drehte mich zu Olympio um, damit er übersetzte. »Sie sagt, sie sei eine Großmutter und brauche Hilfe.«
    »Na dann.« Dadurch wurde die Sache nicht weniger unheimlich, aber sprechende Geister waren mir allemal lieber als körperloses Geheul. Vorsichtig ging ich weiter in den Tunnel hinein, und Olympio folgte mir. Als ich stehen blieb, prallte er gegen meinen Rücken. Wir hatten eine Stelle erreicht, wo sich der Tunnel in zwei Rohre aufteilte.
    »¿Vas a venir?«, fragte die Stimme.
    »Sie will wissen, ob wir wirklich zu ihr kommen«, erklärte Olympio. Und natürlich schien ihre Stimme aus dem dunkleren Tunnel zu kommen. Ich wollte schon weitergehen, aber Olympio hielt mich zurück. Sorgfältig hob er einen Ast auf und legte ihn so, dass er in die Richtung zeigte, aus der wir gekommen waren.
    »So wissen wir, welchen Weg wir nehmen müssen, wenn wir zurückkommen.«
    Dann tauchten wir in die Finsternis ein.
    Wieder und wieder fragte die Frau, ob wir kämen. Irgendwann hatte ich die Worte so oft gehört, dass sie nun wohl neben sangre und mija in meinen Spanischwortschatz integriert waren. Vielleicht würde ich sie sogar noch im Schlaf hören. Doch wenn Olympios Vorstellungskraft recht behielt, würden sie wohl das Letzte sein, was ich hörte.
    Ich versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, dass ich Angst hatte, aber meine Phantasie konnte genauso kreativ sein wie die Olympios; eigentlich war sie

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