Diagnose zur Daemmerung
Kleidungsstück gelagert worden. Ein wirklich angenehmer Geruch.
Als ich auf den Flur trat, wartete er dort auf mich. Jetzt fühlte ich mich zumindest etwas sauberer. »Danke.«
Er nickte so beiläufig, als würde er seinen Angestellten ständig seine T-Shirts leihen. »Wir warten gerade auf den Krankenwagen. Sie ist stark dehydriert und braucht Antibiotika. Und ich werde sie bestimmt nicht mit meinem Wagen ins Krankenhaus fahren.«
»Was dir wirklich niemand übel nehmen kann.« Vorsichtig strich ich über die Kratzspuren an meinem Hals und spürte die geschwollenen Wundränder – als hätte ich Minibremshügel auf der Haut.
»Lass mal sehen … du hast das doch gereinigt, oder?«
Statt einer Antwort warf ich ihm nur einen beleidigten Blick zu.
»Tut mir leid, ich musste fragen.«
»Schon gut.« Aber nachdem ich es ihm gezeigt hatte, fühlte ich mich besser. Wenn ich nun an einer tragischen und eigentlich heilbaren Seuche wie der Katzenkratzkrankheit starb, wüsste wenigstens jemand, was der Auslöser gewesen war.
»Wie zum Teufel bist du darauf gekommen, da runterzugehen?«, fragte Hector, während seine Finger über die Wunden glitten. Die zarte Berührung erwischte mich unvorbereitet, und ich zitterte kurz, bevor ich die Arme verschränkte und so tat, als wäre ich mitten im Juli das Opfer einer Kältewelle geworden. »Das war nicht besonders schlau von dir.«
Ich musterte sein Gesicht. Der Ausdruck in seinen braunen Augen war mir nicht fremd – dasselbe Mitgefühl, das er mir entgegenbrachte, zeigte er auch seinen Patienten.
Was sollte ich ihm sagen? Dass ich das Bedürfnis hatte, andere Leute zu retten, weil mir das bei meiner Mom wohl nicht gelingen würde?
Plötzlich wurde mir bewusst, wie dicht Hector bei mir stand, und ich wandte den Blick ab. »Ich dachte, ich hätte jemanden gehört.«
»Im Abfluss? Na klar doch«, erwiderte er mit sanftem Spott.
»Es klang eben so, als wäre da unten jemand. Und dann hat Olympio es auch gehört.«
Abwehrend schüttelte Hector den Kopf. »Ich habe bereits mit ihm gesprochen und ihm gesagt, dass er beim nächsten Mal gefälligst vernünftiger sein soll. Das ist eine echt gefährliche Ecke, ihr hättet beide getötet werden können.«
Ich verdrehte die Augen. »Ja, Mama.«
»Mag sein, dass dir dein Leben nicht viel wert ist, aber in Olympios Fall ist die ganze Familie von ihm abhängig.« Darauf konnte ich nichts erwidern. Mir stieg die Schamesröte ins Gesicht. Endlich trat er ein paar Schritte zurück. »Wie dem auch sei, lass uns sehen, ob der Krankenwagen da ist.«
Gemeinsam gingen wir in den Warteraum, wo die alte Frau saß. Trotz der Hitze hatte sie sich in ihre schwarze Decke gewickelt, und ich versuchte schon einmal auszurechnen, wie viele Schichten Desinfektionsmittel ihr Stuhl wohl später brauchen würde.
»Sind wir hier fertig?« Olympio blickte zwischen Hector und mir hin und her.
»Ja, vielen Dank.« Hector nahm seine Brieftasche und gab dem Jungen einen Zehndollarschein. Dann kam Olympio zu mir und sah mich auffordernd an. Ich suchte ebenfalls einen Zehner raus und reichte ihn ihm. Er musterte mich von oben bis unten und räusperte sich laut. Schnell wühlte ich in meiner Hosentasche und gab ihm auch noch das Wechselgeld, das nach dem Taschenlampenkauf übrig geblieben war.
»Rate mal, woher ich wusste, dass wir nicht sterben würden«, forderte er mich auf, während er das Geld einsteckte.
»Woher denn?«
» La Llorona kann doch keine Großmutter sein, wenn sie all ihre Kinder umgebracht hat!«
»Ha!« Ich grinste ihn an. Dann wurde dieser Moment des Einvernehmens durch das Geräusch von tropfendem Wasser gestört – es rann von der Frau auf dem Stuhl zu Boden. Sie hatte sich nass gemacht.
Olympio wurde bleich. »Nee, dafür zahlt ihr mir echt nicht genug«, verkündete er und rannte zur Tür.
Die Sanitäter schnallten die Alte auf der Trage fest. Auch bei ihnen wehrte sie sich wie eine tollwütige Katze. Es stellte sich heraus, dass sie unter ihrem schwarzen Fetzen nackt war, sodass die Sanitäter sie in eine Rettungsdecke hüllten. Mir war klar, dass sie sie ins County bringen würden – keine andere Einrichtung der Stadt würde jemanden wie sie aufnehmen. Obwohl inzwischen immer mehr Menschen eine Versicherung hatten, rissen sich die Krankenhäuser nicht gerade darum, Patienten ohne Daten aufzunehmen. Dazu kam die Macht der Gewohnheit. Krankenwagenfahrer, die ihr halbes Leben lang die schwersten und widerwärtigsten Fälle ins
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