Diagnose zur Daemmerung
Du weißt schon, deine Freundin.«
Ich war mir nicht sicher, ob »Freundschaft« eine gute Bezeichnung war für das, was zwischen Anna und mir bestand. Ja, ich hatte ihr einmal das Leben gerettet, was sicher keine Kleinigkeit war, aber als »Freundin« hätte ich sie wohl eher nicht bezeichnet.
»Ich glaube, sie wollte, dass ich es tat. Sie wusste, dass ich es tun würde, und wollte mir damit zeigen, wozu ich fähig war. Damit ich ihr glaube. Ich sollte begreifen, wozu ich geworden war, und spüren, welche Macht sie über mich hat. Und trotzdem habe ich mich gegen sie aufgelehnt, auch danach noch.« Sie sah mir direkt in die Augen. »Ich lasse mir nicht gerne vorschreiben, was ich zu tun habe. Von niemandem.«
Ich schnaubte belustigt. »Ja, ich erinnere mich.«
»Wir haben eine Vereinbarung getroffen: Solange ich das Geheimnis der Vampire wahre und mir keine Anhänger schaffe – also keine Menschen beiße und mein Blut mit ihnen teile –, lässt sie mich in Frieden. Und bisher habe ich mein Wort gehalten.«
Ich fragte mich, ob Anna Luz diese Freiheit geschenkt hatte, um sie zu testen. Falls ja: Hatte sie jemals damit gerechnet, dass Luz so lange durchhalten würde? Sie verfügte über einen unglaublich starken Willen. Betont langsam sah ich mich in dem Chaos aus Probenröhrchen um. »Wie lange hast du gebraucht, um auf diese Ersatzlösung zu kommen?«
»Länger als mir lieb gewesen wäre. Im Winter gab es nicht besonders viele Straßenköter, von denen ich mich ernähren konnte.« Vor meinem inneren Auge sah ich sie, halb verrückt vor Hunger, wie sie nachts durch die Gegend streifte. Ihr Blick wirkte abwesend, wahrscheinlich hing sie genau diesen Erinnerungen nach. »Das Einzige, was mich am Leben und in Freiheit hielt, war mein Stolz. Aber davon wird man eben nicht satt.«
Sie ließ sich wieder auf den Boden sinken. Ihre schwarzen Haare breiteten sich um ihren Kopf aus wie eine fein gezeichnete Landkarte. »Und dann hat Adriana mich gefunden. Sie war das schönste Wesen, das ich jemals gesehen hatte. Sie kannte Catrina, und Catrina … hat mir geholfen.«
Wenn man es als Hilfe bezeichnen konnte. Was das anging, hatten die Geschworenen sich noch nicht entschieden.
»Ich habe Wort gehalten. Und solange ich sie nicht verwandle, darf ich Menschen töten. Als mir das klar wurde …« Ein verschlagenes Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Da habe ich die Macht übernommen. Zunächst habe ich die Gang bestraft, die Javier verletzt hatte. Dann habe ich ihren Platz eingenommen, aber einiges anders gemacht. Hoffentlich besser.« Inzwischen lag Luz flach auf dem Boden. »Es ist fast Morgen. Warum bist du hier, enfermera ?« Je näher der Sonnenaufgang rückte, umso mehr schien sie an Substanz zu verlieren.
»Ich muss mit Anna sprechen.«
»Wenn sie mit dir reden wollte, würde sie dich ausfindig machen. Nächste Frage.« Ihre Lider waren halb geschlossen, wie bei einer entspannten Katze.
»Meine Mutter hat Krebs. Ich brauche dein Blut.«
Sie zögerte, dann begann sie zu lachen und schien gar nicht mehr aufhören zu können. »Das soll doch wohl ein Scherz sein, oder? Nein, du bist ein ernsthafter Typ, du machst keine Witze, daran erinnere ich mich noch.« Luz rollte sich auf die Seite, schloss die Augen und drückte die Wange auf den kalten Beton. »Hältst du das tatsächlich für eine kluge Idee?«
»Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll.«
»Selbst wenn ich wollte, könnte ich dir nicht helfen. Wenn ich dir mein Blut gebe, breche ich das Versprechen, das ich Anna gegeben habe, und das würde mich meine Freiheit kosten. Zweifelsohne würde sie sogar persönlich auftauchen, um mich zurückzuholen.«
»Es muss doch irgendetwas geben, worauf wir uns einigen können. Vielleicht habe ich ja etwas, das du willst?«
Sie schnaubte höhnisch. »Du? Nein. Es gibt nichts mehr zu besprechen.« Ihre Präsenz verblasste mehr und mehr, sie war kaum noch spürbar.
»Verdammt noch mal, Luz!« Ich kroch zu ihr rüber und schob die leeren Teströhrchen von mir. Dann packte ich sie an den Schultern und schüttelte sie. Das war sicher nicht besonders klug, aber da hatte ich endlich einen Vampir gefunden, der mich nicht umbringen wollte, und ausgerechnet der stellte sich als vollkommen nutzlos heraus! Sie rührte sich nicht. Verzweifelt sah ich mich in dem Keller um, suchte nach irgendetwas, das mir eine Handhabe gegen sie verschaffen könnte. Das unbenutzte Bett mit seiner herzförmigen, rosa Beleuchtung schien mich zu
Weitere Kostenlose Bücher