Diagnose zur Daemmerung
es gelang mir nicht. Anna und ich waren eigentlich immer anständig miteinander umgegangen – aber Liebe war der falsche Begriff dafür. Der Mensch, der dieses Papierherz für Luz zurechtgeschnitten hatte, musste verrückt sein. Und verdammt mutig. »Wie heißt sie eigentlich?«
»Adriana.« Catrina musterte mich finster. »Und sie ist meine Schwester«, ergänzte sie, bevor sie die Treppe hinaufging.
Aufgrund von Luz’ Tiefschlaf wusste ich, dass die Sonne bereits aufgegangen sein musste. Zwar konnte ich nicht nach draußen sehen, aber es waren mehr Leute unterwegs, außerdem hörte man durch die dünnen Wände einige Duschen rauschen und Schlafzimmertüren, die sich öffneten und schlossen. Catrina brachte mich nach oben und führte mich durch einen Flur.
»Wenn Adriana nicht unten war, hat sie sich hier aufgehalten.« Sie öffnete eine Tür, und wir betraten eine Wohnung. Durch ein Fenster fiel Tageslicht herein und tauchte die cremefarbenen Wände in einen warmen Schein; auf der einen Seite stand eine rote Couch, auf der anderen ein kleiner, schwarzer Fernseher. Das ebenfalls schwarze Bücherregal war nicht mit Lesestoff gefüllt, sondern mit leuchtend bunten Figürchen und kunstvoll arrangierten goldenen Medaillons. Zwischen den Brettern spannte sich ein Banner aus Seidenpapier, in das filigrane Muster geschnitten worden waren.
Catrina schob sich an mir vorbei und verschwand im Nebenzimmer, doch ich folgte ihr nicht. Kein Grund, unangemessen neugierig zu sein. Als sie zurückkam, hatte sie einen dunkelblauen Pullover in der Hand. »Kann dieses Ding sie auch finden, falls sie …« Sie wollte es nicht aussprechen.
»Das weiß ich nicht. Aber ich werde ihn heute Abend danach fragen.«
Diese Antwort schien sie zu überraschen. »Er war früher einmal ein Mensch, und er kann uns noch verstehen«, erklärte ich, was sie kopfschüttelnd zur Kenntnis nahm.
»Und ich dachte, ich hätte inzwischen alles gesehen.« Nachdenklich sah sie auf den Pullover hinunter, dann zog sie die ausgestreckte Hand zurück. »Ich komme mit.«
»Was? Nein, auf keinen Fall.«
Doch Catrina nickte entschlossen. »Sie ist meine Schwester, ich muss mitkommen. Ich will dabei sein, wenn ihr sie findet. Du weißt ja gar nicht, wie sie aussieht … und dieses Ding könnte sie fressen … und …«
»Okay, okay!« Schnell hob ich die Hände, um sie zum Schweigen zu bringen. »Hiermit gebe ich offiziell zu Protokoll, dass ich das für eine dumme Idee halte, aber meinetwegen.« Wahrscheinlich spielte es keine Rolle, auf welchem Weg ich Adriana aufspürte – außerdem verfügte Catrina über die don , was auch immer das sein mochte. Vielleicht war es ja sogar ganz günstig, jemanden auf meiner Seite zu haben, der Dinge sah, die sich mir nicht zeigten, und der dazu noch sprechen konnte.
»Heute Abend?«, hakte sie nach und drückte den Pullover an die Brust.
»Ja. Wir treffen uns bei Sonnenuntergang bei mir zu Hause.«
»Alles klar.«
Ich gab ihr meine Adresse, dann begleitete sie mich nach draußen.
Kapitel 25
Langsam stieg ich die Stufen hinunter und tauchte in das durch die Autos gedämpfte Tageslicht ein. Indem ich Leuten folgte, die sich in diesem Labyrinth offenbar auskannten, gelangte ich zu der Stelle, an der Hector auf mich wartete.
Als er mich sah, erhob er sich vom Boden. »Wie war’s?«
»Überraschend.« Wir setzten uns in Bewegung, und ich vergewisserte mich sorgfältig, dass wir nicht belauscht wurden, bevor ich erklärte: »Sie ist tatsächlich ein Vampir.« So viel durfte ich sicherlich verraten. »Ihr Fußboden ist mit ungefähr tausend Teströhrchen aus dem Divisadero übersät, was für dich aber ja nichts Neues sein dürfte.« Ich zog eine Grimasse.
»Da sie hier wirklich nützliche Dinge tut, zahle ich ihre Art des Zehnten nur zu gern. Sie zwingt die Leute nicht dazu, irgendwelche knochigen Statuen anzubeten und exorbitante Schmiergelder zu bezahlen.«
Suchend blickte ich mich um. »Wann ist Jorgen gegangen?«
»Kurz vor Sonnenaufgang ist er verschwunden. Da er ja nicht gerade ein schöner Anblick ist, habe ich ihn eine Weile aus den Augen gelassen. Als ich mich dann zur Dämmerung nach ihm umsah, war er nicht mehr da.«
Wo er wohl tagsüber blieb? Kehrte er an Drens Seite zurück, löste er sich in Luft auf, oder verbarg er sich unter den Blättern eines Baumes, wie ein Schmetterling im Regen? Sicher nicht – was für ein lächerlicher Gedanke.
»Dann wird sie dir also helfen?«, fragte Hector. Ich
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