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Diagnose zur Daemmerung

Diagnose zur Daemmerung

Titel: Diagnose zur Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cassie Alexander
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extra dehnbare Wirbelsäule hat, sprang er die Treppe hinunter, dann drehte er sich um und wartete darauf, dass wir ihm folgten.
    Erst als wir schon fast da waren, ging mir auf, dass wir Richtung Bahnhaltestelle liefen.
    Catrina beobachtete aufmerksam, wie Jorgen vor uns herschlich. »Wie lange kennst du ihn schon?«, fragte sie irgendwann.
    »Das erste Mal sind wir uns letztes Jahr im Dezember begegnet.« Auf die Details unserer gemeinsamen Vergangenheit wollte ich lieber nicht eingehen. »Und wie lange kennst du Hector?«, fragte ich stattdessen zurück.
    »Auch seit Dezember.«
    Das überraschte mich. »Wirklich? Aber er scheint im Viertel total etabliert zu sein.«
    »Oh, das ist er auch, er hat schließlich jede Menge Gutes getan. Er war mit dem früheren Arzt befreundet, der irgendwann zu alt für den Job wurde.«
    »Aha.« Das passte irgendwie nicht zu dem Lebenslauf, den ich mir für Hector zurechtgelegt hatte.
    Als wir das Drehkreuz an der Haltestelle erreichten, stellte sich die Frage, wie Jorgen da durchkommen sollte. Bei Catrina und mir benutzte ich einfach meine Dauerkarte, wir gingen durch das Kreuz, und alles war erledigt. Dann drehte ich mich zu Jorgen um, der auf der anderen Seite festsaß. Ich lehnte mich über den Automaten und schob noch einmal meine Karte rein, dann erhob er sich auf die Hinterpfoten und stolperte mit ruckartigen Bewegungen aufrecht durch das Drehkreuz. Dabei bewegte er sich wie ein Monster aus einem Albtraum. Sobald er das geschafft hatte, ließ er sich so abrupt wieder auf alle viere fallen, dass seine lose Haut wogte.
    In dem hellen Licht auf dem Bahnsteig blieb uns kein Detail seines Anblicks erspart. Durch die kahlen Stellen in seinem Fell schimmerte menschliche Haut, die leichenblass und von blauen Adern durchzogen war. Er sah so grauenhaft aus, dass es mich Überwindung kostete, überhaupt mit ihm zu sprechen. »Wohin jetzt?«, fragte ich trotzdem. Er orientierte sich kurz, dann warteten wir schweigend auf die Hochbahn Richtung Süden.
    Warum war ich nicht überrascht, als wir an derselben Haltestelle ausstiegen, an der auch die Klinik lag? Die Obdachlosen schliefen unter ihren improvisierten Zelten; hoffentlich verfügte niemand von ihnen über Catrinas don , denn ich hatte wirklich keine Lust, jemandem zu erklären, was es mit Jorgen auf sich hatte. Andererseits fand ich es wesentlich sicherer, eine solche Nachtwanderung mit einer Schreckenskreatur an meiner Seite zu unternehmen. Blieb nur zu hoffen, dass er normalen Menschen gegenüber nicht völlig handlungsunfähig war, nur weil sie ihn nicht sehen konnten. Denn es wäre extrem blöd, wenn wir in Schwierigkeiten gerieten und uns dann nicht auf meinen gruseligen, unsichtbaren Freund verlassen könnten.
    »Ich hätte nicht gedacht, dass Adriana ganz in der Nähe sein könnte«, sagte Catrina enttäuscht.
    So nah … das war kein gutes Zeichen. Denn es gab eine ganz einfache Erklärung dafür, dass Luz Adriana nicht hatte finden können: wenn sie tot war. Ich konnte sehen, wie Catrina sich innerlich wappnete, um sich der Wahrheit zu stellen – jeder Wahrheit, Hauptsache endlich Gewissheit. Mir fiel keine passende Antwort ein, also schwieg ich.
    Wir wandten uns in eine Richtung, die ich weder auf meinen Touren mit Olympio noch gestern mit Hector erkundet hatte. Nachts wirkte das Viertel viel bedrohlicher. Die Farben verblassten, und Schmutz und Schatten traten deutlicher hervor. Als wir einer Gasse passierten, kamen ein paar halb verwilderte Hunde angelaufen und knurrten uns an. Jorgen warf ihnen einen finsteren Blick zu, woraufhin die Scheueren unter ihnen das Feld räumten. Die Mutigeren verfolgten uns bellend, bis wütende Schreie, die selbst durch die geschlossenen Fenster drangen, sie verscheuchten.
    »Kann er uns sagen, was uns erwartet?«, fragte Catrina wenig später.
    »Glaub ich nicht.« Am County hatten wir für Patienten, die weder sprechen noch schreiben konnten, Karten bereitgehalten, auf denen mögliche Bedürfnisse bildlich dargestellt waren. Wenn sie auf das Symbol für Toilette zeigten, brachten wir ihnen eine Bettpfanne. Was für grässliche Bildkarten bräuchte Jorgen wohl, um mir mitzuteilen, wohin wir gingen? Vielleicht Oberst von Gatow mit dem Messer in der finsteren Gasse …
    Auch mitten auf der Straße gab es ein paar schlafende Obdachlose. In einer so warmen Nacht brauchte man eigentlich kein Zelt. Und wer zu betrunken oder zu weggetreten war, um eines zu finden, würde sich wohl auch nicht

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