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Diamantene Kutsche

Diamantene Kutsche

Titel: Diamantene Kutsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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das sei ein unfair play gewesen. Ein Glünschnabel, ein Leutnant der französischen Marine-Infanterie, verhöhnte den Doktor betrunken vor allen als Feigling. Der Sensei seufzte schwer und sagte: ›Sie sind sehr jung und wissen noch nicht, was Verantwortung heißt. Aber wenn Sie mich für einen Feigling halten, können wir uns gern duellieren, zu denselben Bedingungen.‹ Dabei schaute er dem Glünschnabel so durchdringend auf die Stirn, daß der sofort nüchtern wurde und sich entschuldigte. Solch ein Mensch ist Doktor Twiggs!« schloß Shirota begeistert. »Ein aufrechter Mann!«
    »Wie Puschkin und Feldmarschall Saigo?« Fandorin mußte unwillkürlich lächeln.
    Der Schreiber nickte feierlich.
    Offen gestanden sah auch Fandorin den aus dem Schlafzimmer kommenden Doktor nun mit anderen Augen. Er bemerkte einige Eigenheiten, die bei oberflächlicher Betrachtung nicht auffielen: die harte Kinnlinie, die trotzig gewölbte Stirn. Ein hochinteressantes Exemplar.
    »Geflickt und zugenäht, alles bestens«, verkündete der Doktor. »Mister Fandorin, ich bekomme von Ihnen eine Guinee und zwei Schillinge. Und sechs Pence für den Platz im Leichenschauhaus. Eis ist in Yokohama teuer.«
    Als Shirota gegangen war, um ein Fuhrwerk für den Transport des Leichnams zu besorgen, faßte Twiggs Fandorin mit zwei Fingern an einem Knopf und sagte mit geheimnisvoller Miene: »Ich habe über die Fingerabdrücke und den roten Fleck nachgedacht … Sagen Sie, Herr Vizekonsul, haben Sie schon einmal von der Kunst des Dim-mak gehört?«
    »W-wie bitte?«
    »Also nicht«, konstatierte der Doktor. »Kein Wunder. Über das Dim-mak ist nur wenig bekannt. Vielleicht sind das überhaupt alles nur Märchen …«
    »Was ist denn Dim-mak?«
    »Die chinesische Kunst des Verzögerten Tötens.«
    Fandorin zuckte zusammen und sah Twiggs durchdringend an, ob der vielleicht scherzte.
    »Was?«
    »Ich weiß darüber nichts Genaues, aber ich habe gelesen, daß es Menschen gibt, die mit einer einzigen Berührung töten oder heilen können. Sie können angeblich Energie konzentrieren, sie bündeln und mit diesem Bündel auf bestimmte Punkte am Körper einwirken. Von Akupunktur haben Sie doch gewiß schon gehört?«
    »Ja.«
    »Dim-mak beruht offenbar auf denselben anatomischen Kenntnissen,operiert aber nicht mit Nadeln, sondern mit bloßen Berührungen. Ich habe gelesen, jemand, der diese geheimnisvolle Kunst beherrscht, kann damit einen heftigen Schmerz auslösen oder einen Menschen im Gegenteil vollkommen unempfindlich gegen Schmerz machen, ihn zeitweilig lähmen, einschläfern oder sogar töten. Und zwar nicht unbedingt im Augenblick der Berührung, sondern mit Verzögerung.«
    »Nicht zu fassen!« rief Fandorin, der dem Doktor mit wachsender Verständnislosigkeit zugehört hatte.
    »Ich verstehe es selbst nicht. Es klingt wie ein Märchen. Aber ich erinnere mich an eine Geschichte, die ich einmal gelesen habe: Ein Meister des Dim-mak versetzte sich selbst einen Schlag auf einen bestimmten Punkt und fiel wie tot um. Sein Atem stand still, sein Herz schlug nicht mehr. Seine Feinde warfen ihn den Hunden zum Fraß vor, nach einer Weile aber erwachte er gesund und munter. Und noch eine Geschichte habe ich gelesen – ein chinesischer Herrscher wurde von einem Bettler auf den Fuß geküßt. Nach einer Weile bildete sich an dieser Stelle ein rosa Fleck, nach einigen Stunden fiel der Kaiser plötzlich tot um. Verdammt!« Der Doktor wurde verlegen. »Ich komme mir schon vor wie diese Trottel von Journalisten, die alle möglichen Märchen über den Fernen Osten verbreiten. Aber als ich unseren Freund wieder zunähte, dachte ich dauernd an die Spur am Hals, und da fielen mir diese Dinge wieder ein …«
    Es war kaum vorstellbar, daß ein so seriöser und vernünftiger Mann wie Doktor Twiggs sein Gegenüber veralbern wollte, doch an die Verzögerte Tötung zu glauben fiel einem überzeugten Rationalisten, und für den hielt sich Fandorin, sehr schwer.
    »Tja«, sagte er schließlich. »In Asien gibt es natürlich so manches, was die europäische Wissenschaft noch nicht entdeckt hat …«
    Mit dieser höflichen Bemerkung endete das mystische Gespräch.
     
    Auf der Straße verabschiedeten sie sich von Twiggs. Der Doktor stieg in eine Rikscha, lüpfte seinen Hut und fuhr davon. Zwei Einheimische luden den in ein Laken gehüllten Körper des armen Kapitäns auf einen Leiterwagen.
    Fandorin, Shirota und die schluchzende Mademoiselle Blagolepowa machten sich zu Fuß auf

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