Diamond Age - Die Grenzwelt
die Augen und deklamierte den Text unter Aufbietung von jedem Quentchen Talent und Technik, das sie besaß.
»Gut!« sagte Dinosaurier. »Dann ist es für dich und Harv an der Zeit, aus dem Dunklen Schloß zu fliehen! Ihr müßt so leise sein, wie ihr nur könnt. Ich werde mich später zu euch gesellen.«
Bitte geh fort. Bitte lauf weg. Verschwinde aus dieser Schreckenskammer, wo du lebst, Nell, und geh in ein Waisenhaus oder zur Polizei oder sonstwohin, und ich werde dich finden. Wo du auch sein magst, ich werde dich finden.
Miranda hatte sich schon alles zurechtgelegt: Sie konnte eine zusätzliche Matratze kompilieren lassen und Nell auf dem Boden ihres Schlafzimmers und Harv im Wohnzimmer schlafen lassen. Wenn sie nur dahinterkommen könnte, wer die beiden waren.
Prinzessin Nell hatte nicht geantwortet. Sie dachte nach, was im Augenblick nicht angebracht war.
Verschwinde. Verschwinde.
»Warum hältst du diesen Pfahl ins Feuer?«
»Weil es meine Pflicht ist, dafür zu sorgen, daß dir der böse Baron nie wieder etwas tut«, sagte Miranda, die von ihrem Prompter ablas.
»Aber was hast du mit dem Pfahl vor?«
Bitte laß das sein. Du hast keine Zeit, ständig nach dem Warum zu fragen.
»Du mußt dich sputen!« las Miranda und versuchte wieder, den Text so eindringlich wie möglich rüberzubringen. Aber Prinzessin Nell spielte inzwischen schon seit zwei Jahren mit der Fibel und hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, endlose Fragen zu stellen.
»Warum machst du den Pfahl spitzer?«
»So haben Odysseus und ich den Zyklopen außer Gefecht gesetzt«, sagte Dinosaurier.
Scheiße. Es wird alles schiefgehen.
»Was ist ein Zyklop?« fragte Nell.
Eine neue Illustration wuchs auf der Textseite gegenüber der Darstellung von Dinosaurier am Feuer. Es war das Bild eines einäugigen Riesen, der eine Schafherde hütete.
Dinosaurier erzählte die Geschichte, wie Odysseus den Zyklopen mit einem spitzen Pfahl geblendet hatte, wie er selbst es mit Baron Burt vorhatte. Nell wollte unbedingt hören, was danach passiert war. Eine Geschichte führte zur nächsten. Miranda versuchte, die Geschichten so schnell sie konnte zu erzählen und bemühte sich, ihrer Stimme einen Unterton von Langeweile und Ungeduld zu verleihen, was ihr nicht leichtfiel, da sie sich am Rand einer Panik befand. Sie mußte Nell aus dem Apartment lotsen, bevor Burt seinen Rausch ausgeschlafen hatte.
Am östlichen Horizont zeigte sich ein erster Lichtstreif... Scheiße. Mach, daß du fortkommst, Nell!
Dinosaurier war gerade dabei, Prinzessin Nell von einer Hexe zu erzählen, die Männer in Schweine verwandelte, als er sich plötzlich, puff, wieder in ein Plüschtier verwandelte. Die Sonne war aufgegangen.
Nell verblüffte diese Wendung der Ereignisse ein wenig, sie schlug die Fibel zu, blieb eine Weile im Dunkeln sitzen und hörte, wie Harv keuchend atmete und Burt im Nebenzimmer schnarchte. Sie hatte sich auf die Stelle gefreut, wenn Dinosaurier Baron Burt blenden würde, genau wie Odysseus den Zyklopen. Aber jetzt würde es nicht dazu kommen. Baron Burt würde aufwachen und begreifen, daß er überlistet worden war, und dann würde er ihnen noch mehr weh tun als vorher. Sie würden für alle Zeiten im Dunklen Schloß festsitzen.
Nell hatte es satt, im Dunklen Schloß zu sein. Sie wußte, es war höchste Zeit, sich davonzumachen.
Sie schlug die Fibel auf.
»Prinzessin Nell wußte, was sie zu tun hatte«, sagte Nell. Dann schlug sie die Fibel zu und ließ sie auf dem Kissen liegen.
Auch wenn sie nicht ziemlich gut lesen gelernt hätte, wäre es ihr mit den Mediaglyphen des MC mühelos gelungen, zu finden, wonach sie suchte. Es war ein Ding, das sie Leute schon in alten Passiven benutzen gesehen hatte; ein Ding, das sie sah, als Moms alter Freund Brad mit ihr den Pferdestall in Dovetail besuchte. Man nannte es Schraubenzieher, und der MC konnte sie in den unterschiedlichsten Formen herstellen: lang, kurz, dick, dünn.
Sie ließ sich einen machen, der sehr lang und dünn war. Als der MC fertig war, gab er wie immer ein Zischen von sich, und sie dachte, daß Burt sich auf dem Sofa regte.
Sie warf einen Blick ins Wohnzimmer. Er lag immer noch mit geschlossenen Augen da, bewegte aber die Arme. Er drehte einmal den Kopf, und da konnte sie das Weiße zwischen seinen halb geöffneten Lidern sehen.
Gleich würde er aufwachen und ihr wieder weh tun.
Sie hielt den Schraubenzieher wie eine Lanze vor sich und rannte direkt auf ihn zu.
Im letzten
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