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Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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geworden, daß Gwen es einfach nicht schnallte. Zuerst hatte Hackworth darauf mit Verärgerung reagiert und es als ein Zeichen bis dato unerkannter intellektueller Unzulänglichkeit gewertet. In jüngster Zeit hatte er eingesehen, daß es sich mehr um ein emotionales Problem handelte. Hackworth brach zu einer Expedition besonderer Art auf, ein höchst romantisches, typisches Boy's-Own-Paper-Abenteuer. Gwen war nicht mit der richtigen Kost epischer Abenteuergeschichten aufgewachsen, und daher konnte sie sich keinen Reim auf die Sache machen. Sie schniefte pro forma ein wenig und wischte sich Tränen ab, küßte und umarmte ihn rasch und wich zurück, womit sie ihre Rolle in der Zeremonie mit nicht gerade überwältigender Inbrunst erfüllt hatte. Hackworth, der sich ein wenig verstimmt fühlte, ging in die Hocke und sah Fiona an.
    Seine Tochter schien die Situation intuitiv besser zu begreifen; in letzter Zeit war sie häufig nachts wach geworden und hatte sich über Alpträume beschwert, und auf dem Weg zum Aerodrom war sie vollkommen still gewesen. Sie sah ihren Vater mit großen, roten Augen an. Hackworth traten Tränen in die Augen, und seine Nase lief. Er schneuzte sich schallend, hielt sich das Taschentuch einen Moment vors Gesicht und nahm sich zusammen.
    Dann griff er in die Brusttasche seines Mantels und holte ein flaches Päckchen heraus, das in ein Mediatronpapier mit Wildblumen, die sich in sanftem Wind wiegten, eingepackt war. Fiona strahlte auf der Stelle, und Hackworth mußte nicht zum erstenmal unwillkürlich darüber lachen, wie bezaubernd empfänglich die Kleinen für unverhohlene Bestechung waren. »Du wirst mir verzeihen«, sagte er, »wenn ich dir die Überraschung verderbe und verrate, daß es ein Buch ist, mein Liebling. Ein Zauberbuch. Ich habe es für dich gemacht, weil ich dich liebhabe und mir keine bessere Möglichkeit denken konnte, diese Liebe zum Ausdruck zu bringen. Und wenn du die Seiten aufschlägst, wirst du mich dort finden, wo immer ich auch sein mag.«
    »Hab vielen herzlichen Dank, Vater«, sagte sie und nahm es in beide Hände, und er konnte nicht anders, er mußte sie in beide Arme nehmen und drücken und küssen. »Leb wohl, mein ein und alles, du wirst mich in deinen Träumen sehen«, flüsterte er ihr in ihr makelloses kleines Ohr, und dann gab er sie frei, wirbelte sie herum und ging davon, bevor sie sehen konnte, daß ihm Tränen über das Gesicht liefen.
    Hackworth war jetzt ein freier Mann, lief in einer Art Benommenheit durch das Aerodrom und gelangte nur zu seinem Flug, indem er demselben Herdentrieb folgte, der alle anderen Einheimischen zu ihren führte. Jedesmal, wenn er mehr als einen
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zielstrebig in eine Richtung gehen sah, folgte er ihnen, und dann folgten andere ihm, und so bildete sich eine Gruppe fremdländischer Teufel unter hundertmal so vielen Eingeborenen, und schließlich, zwei Stunden nach der planmäßigen Abflugszeit ihres Luftschiffs, passierten sie ein Tor und gingen an Bord der
Hanjin Takhoma
- die vielleicht ihr planmäßiges Luftschiff war, vielleicht aber auch nicht, doch auf jeden Fall hatten die Passagiere inzwischen eine derartige zahlenmäßige Überlegenheit, daß sie es nach Amerika entführen konnten, und nur das allein zählte in China.
    Der Ruf des Himmlischen Königreichs hatte ihn ereilt. Nun befand er sich auf dem Weg in das Land, das immer noch unscharf als Amerika bezeichnet wurde. Seine Augen waren rot, weil er um Gwen und Fiona geweint hatte, und in seinem Blutkreislauf wimmelte es von Nanositen, deren Funktion ausschließlich Dr. X kannte; Hackworth hatte sich zurückgelegt, die Augen geschlossen, den Ärmel hochgekrempelt und »Rule, Atlantis« gesummt, während die Ärzte von Dr. X (jedenfalls hoffte er, daß es Ärzte waren), ihm eine dicke Nadel in den Arm gebohrt hatten. Die Nadel befand sich an einer Röhre, die direkt zu einer speziellen Kupplung am MaterieCompiler führte; Hackworth war direkt in den Feeder eingestöpselt worden, nicht in die regulären, wie sie in Atlantis verwendet wurden, sondern in eine der Schwarzmarktkisten von Dr. X. Er konnte nur hoffen, daß sie ihm die richtigen Instruktionen gegeben hatten, denn es wäre verdammt übel, wenn eine Waschmaschine, ein mediatronisches Eßstäbchen oder ein Kilo China White in seinem Arm materialisiert worden wäre. Seither hatte er einige Anfälle von Schüttelfrost erlebt, was darauf hindeutete, daß sein Immunsystem gegen etwas reagierte, das Dr. X. ihm

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