Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
Vom Netzwerk:
Augenblick bekam sie Angst. Das Werkzeug rutschte ab, schrammte über seine Stirn und hinterließ eine Spur roter Kratzer. Nell erschrak so sehr, daß sie den Schraubenzieher fallen ließ und zurückwich. Burt schüttelte den Kopf heftig hin und her.
    Er schlug die Augen auf und sah Nell direkt an. Dann hob er die Hand zur Stirn, und als er sie zurücknahm, war sie voll Blut. Er richtete sich, noch immer ohne zu begreifen, auf dem Sofa auf. Der Schraubenzieher rollte davon und fiel auf den Boden. Er hob ihn auf, sah die blutige Spitze und richtete den Blick auf Nell, die sich in eine Ecke des Zimmers drückte.
    Nell wußte, daß sie einen Fehler gemacht hatte. Dinosaurier hatte ihr gesagt, daß sie fliehen sollte, aber statt dessen hatte sie ihn mit Fragen belästigt.
    »Harv!« sagte sie. Aber ihre Stimme klang trocken und piepsig wie die einer Maus. »Wir müssen einen Abflug machen!«
    »Ja, du wirst einen Abflug machen«, sagte Burt und schwang die Füße auf den Boden. »Direkt durch das verdammte Fenster wirst du einen Abflug machen.«
    Harv kam aus ihrem Zimmer. Er trug seinen Tschako unter dem verletzten Arm und die Fibel in der guten Hand. Das Buch hing offen herunter und zeigte eine Illustration, wie Nell und Harv aus dem Dunklen Schloß flohen. »Nell, dein Buch hat zu mir gesprochen«, sagte er. »Es hat gesagt, daß wir weglaufen sollen.« Dann sah er Burt, der mit dem blutigen Schraubenzieher in der Hand vom Sofa aufstand.
    Harv machte sich gar nicht erst die Mühe, den Tschako zur Hand zu nehmen. Er rannte durch das Zimmer und ließ die Fibel fallen, damit er die unversehrte Hand freihatte, um die Tür aufzureißen. Nell, die die ganze Zeit wie gelähmt in der Ecke gehockt hatte, schoß zur Tür wie ein Pfeil aus einer Armbrust, und hob im Vorbeilaufen die Fibel auf. Sie rannten auf den Flur hinaus, und Burt folgte ihnen mit nur wenigen Schritten Abstand.
    Die Halle mit den Fahrstühlen war ein gutes Stück entfernt. Nell folgte einer Eingebung, blieb stehen und warf sich in Burts Weg. Harv drehte sich entsetzt zu ihr um. »Nell!« rief er.
    Burts stapfende Beine trafen Nell an der Seite. Er fiel vornüber, landete auf dem Flurboden und rutschte ein Stück weiter. Er blieb unmittelbar vor Harvs Füßen liegen, der sich zu ihm umdrehte und den Tschako hob. Harv schlug Burt mehrmals über den Kopf, aber er war wie von Sinnen und machte es nicht besonders gut. Burt tastete mit einer Hand um sich und bekam die Kette zu fassen, die die beiden Stäbe der Waffe verband. Nell war inzwischen wieder aufgestanden und stürmte von hinten auf Burt zu; sie beugte sich nach vorne und grub die Zähne in den fleischigen Ansatz von Burts Daumen. Etwa Schnelles und Verwirrendes geschah, Nell rollte über den Boden, Harv zog sie wieder auf die Füße, sie hob die Fibel auf, die sie wieder fallen gelassen hatte. Sie schafften es bis zur Feuertreppe, rannten den Tunnel voll Urin, Graffiti und Abfall hinunter und mußten ab und zu über eine liegende Gestalt springen. Burt, der Verfolger, stürmte ein paar Stufen über ihnen in das Treppenhaus. Er versuchte, den Weg abzukürzen, indem er über das Geländer sprang, wie er es in Raktiven immer wieder gesehen und getan hatte, aber weil er betrunken war, schaffte er es nicht so gut wie die Medienhelden, stürzte eine Treppenflucht hinunter und fluchte und schrie, tollwütig vor Schmerz und Wut. Nell und Harv rannten weiter.
    Burts Sturz verschaffte ihnen genügend Vorsprung, daß sie es bis zum Erdgeschoß schafften. Sie rannten quer durch die Halle und auf die Straße. In den frühen Morgenstunden war fast niemand unterwegs, und das war etwas ungewöhnlich; normalerweise hätte man zumindest Lockvögel und Kuriere von Drogenhändlern sehen müssen. Aber heute nacht stand nur ein einziger Mann im ganzen Block: ein gedrungener Chinese mit kurzem Bart und Stoppelfrisur, der traditionelle indigofarbene Pluderhosen und einen schwarzen Lederhelm trug und mit den Händen in den Hosentaschen mitten auf der Straße stand. Er bedachte Nell und Harv mit einem abschätzenden Blick, als sie an ihm vorbeiliefen. Nell schenkte ihm keine große Aufmerksamkeit. Sie rannte nur, so schnell sie konnte.
    »Nell!« sagte Harv. »Nell! Sieh doch!«
    Sie hatte Angst hinzusehen. Sie lief weiter.
    »Nell, bleib stehen und schau hin!« rief Harv. Er hörte sich übermütig an.
    Schließlich lief Nell zur Ecke eines Gebäudes, blieb stehen, drehte sich um und sah vorsichtig zurück.
    Sie sah die

Weitere Kostenlose Bücher