Diamond Age - Die Grenzwelt
Szene und zerfloß geschickt zu den Schriftzeichen des Namens von Dr. X. Dann fing alles wieder von vorne an. Auf der Rückseite prangten einige Mediaglyphen, die darauf hindeuteten, daß es sich in Wahrheit um einen Chit handelte; will heißen, ein totipotentes Programm für einen MaterieCompiler, kombiniert mit genügend Ucus, um es auszuführen. Die Mediaglyphen verrieten, daß es nur bei einem MaterieCompiler mit acht Kubikmetern oder mehr funktionierte; das war enorm und deutete darauf hin, daß Hackworth erst in Amerika von der Karte Gebrauch machen sollte.
Er ging in Vancouver von Bord der
Hanjin Takhoma,
wo es, abgesehen vom malerischsten Anlegemast der Welt, eine ansehnliche atlantische Klave gab. Dr. X hatte ihm kein genaues Ziel genannt - er hatte ihm nur den Chit und die Flugnummer gegeben -, daher schien es wenig sinnvoll, bis zum Ende der Reise an Bord zu bleiben. Sollte es erforderlich sein, konnte er von hier jederzeit mit dem Zug die Küste hinunterfahren.
Die Stadt selbst bestand aus einem weiträumigen Basar von Klaven. Infolgedessen war sie mit einer großen Vielzahl von Plätzen gesegnet, die sich im Besitz und unter Verwaltung des Protokolls befanden, wo sich Bürger und Angehörige unterschiedlicher Phylen auf neutralem Boden treffen konnten, um zu handeln, zu verhandeln, Geschlechtsverkehr zu praktizieren oder was auch immer. Manche dieser Plätze waren einfach traditionelle, klassische Plazas, andere hatten mehr Ähnlichkeit mit Kongreßzentren oder Bürogebäuden. Zahlreiche der teureren und bessergelegenen Bezirke von Vancouver hatten die Gesellschaft Multilateraler Barmherzigkeit in Hongkong oder die Nipponesen gekauft, und den Konfuzianern gehörte das höchste Bürogebäude im Innenstadtbereich. Östlich der Stadt, im fruchtbaren Delta des Fräser River, hatten angeblich die Slawen und Deutschen große Areale von
Lebensraum
für sich abgesteckt, von Gittern umgeben, deren Sporen um einiges tückischer sein sollten als die üblichen ÜberwachungsStats. Hindustan unterhielt eine Anzahl winziger Klaven überall im Stadtbereich.
Die Klave Atlantis ragte eine halbe Meile westlich von der Universität, mit der sie mittels einer Überführung verbunden war, aus dem Wasser empor. Imperial Tectonics hatte ihr das Aussehen einer ganz gewöhnlichen Insel verliehen, als wäre sie schon seit Jahrmillionen an derselben Stelle. Als Hackworth auf seinem gemieteten Veloziped die Brücke überquerte und ihm die frische Meeresluft durch die Bartstoppeln strich, entspannte er sich, weil er sich wieder auf heimatlichem Grund und Boden befand. Auf einem smaragdgrünen Spielfeld über dem Wellenbrecher tummelten sich Jungs in kurzen Hosen in dichter Schar und spielten eine Mischung aus Fuß- und Basketball.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag die Mädchenschule mit einem eigenen, genauso großen Spielfeld, allerdings von einer dichten, dreieinhalb Meter hohen Hecke umgeben, damit die Mädchen in knapper oder hautenger Bekleidung herumlaufen konnten, ohne daß Probleme der Etikette aufgeworfen wurden. Hackworth hatte in der Mikrokoje nicht gut geschlafen und hätte nichts dagegen gehabt, gleich sein Gästehaus aufzusuchen und ein Nickerchen zu machen, aber es war erst elf Uhr vormittags, und er brachte es nicht fertig, den Tag zu vergeuden. Daher fuhr er mit seinem Fahrrad ins Stadtzentrum, hielt vor dem ersten Pub an, das er sah, und aß zu Mittag. Der Barkeeper wies ihm den Weg zum Königlichen Postamt, das nur wenige Blocks entfernt lag.
Das Postamt war groß und verfügte über eine Vielzahl von MaterieCompilern, einschließlich eines Zehnkubikmetermodells unmittelbar gegenüber der Laderampe. Hackworth schob den Chit von Dr. X in den Scanner und hielt den Atem an. Aber es geschah nichts Weltbewegendes; das Display an der Bedienungskonsole verriet lediglich, daß der Auftrag einige Stunden dauern würde.
Hackworth schlug den größten Teil der Zeit damit tot, daß er durch die Klave schlenderte. Das Stadtzentrum war nicht groß und wich bald Gartenvierteln mit prachtvollen georgianischen, viktorianischen und romanischen Villen, zwischen die sich vereinzelt ein verschnörkeltes Tudor-Anwesen auf einer Anhöhe oder in einer grünen Niederung schmiegte. Hinter den Wohnhäusern lag ein Streifen mit Farmen für den Landadel, dazwischen Golfplätze und Parks. Er setzte sich in einem öffentlichen Blumengarten auf eine Bank und faltete des Blatt Mediatronpapier auseinander, das die Bewegungen der
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