Diamond Age - Die Grenzwelt
sie sich weitaus mehr als für Richter Fang, aber man hatte ihr gutes Benehmen beigebracht, daher verbeugte sie sich und dankte ihm. Dann schlug sie es auf. Ihre Augen wurden groß. Das Buch sprach sie an. Richter Fang fand, daß sich die Stimme ein wenig dumpf anhörte und der Sprachrhythmus nicht genau stimmte. Aber dem Mädchen war das einerlei. Das Mädchen war fasziniert.
Richter Fang stand auf und sah sich von hundert kleinen Mädchen umringt, die alle mit offenen Mündern auf Zehenspitzen standen und das kleine Jadebuch bewunderten.
Endlich hatte er mit seiner Position etwas uneingeschränkt Gutes tun können. In der Küstenrepublik wäre das nicht möglich gewesen; im Mittleren Königreich, das den Worten und dem Geist des Meisters huldigte, gehörte es einfach zu seinen Pflichten.
Er drehte sich um und verließ den Raum; keines der Mädchen bemerkte es, was ihm nicht unangenehm war, denn möglicherweise hätten sie seine Lippen beben und eine Träne in seinen Augen sehen können. Während er durch die Flure zum Oberdeck schritt, wo das Luftschiff auf ihn wartete, dachte er zum tausendstenmal über die Große Unterweisung nach, den Kern des Gedankengebäudes des Meisters:
Die Alten, welche überall im Königreich erhabene Tugend demonstrieren wollten, brachten zuerst ihr eigenes Dasein in Ordnung. Im Wunsch, ihr eigenes Dasein in Ordnung zu bringen, reglementierten sie zuerst ihre Familien. In dem Wunsch, ihre Familien zu reglementieren, kultivierten sie als erstes ihre Persönlichkeit. In dem Wunsch, ihre Persönlichkeit zu kultivieren, korrigierten sie zuerst ihr Herz. In dem Wunsch, ihr Herz zu korrigieren, trachteten sie als erstes danach, aufrichtigen Denkens zu sein. In dem Wunsch, aufrichtigen Denkens zu sein, erwarben sie als erstes höchstes Wissen. Dieser Erwerb höchsten Wissens lag in der Untersuchung von Dingen... Vom Sohn des Himmels bis hinab zur Masse des Volkes müssen alle die Kultivierung ihrer Persönlichkeit als Wurzel für alles andere betrachten.
Hackworth erhält eine zweideutige Botschaft;
ein Ritt durch Vancouver;
tätowierte Frauen und Totempfähle;
er betritt die verborgene Welt der Trommler.
Kidnapper hatte eine Art eingebautes Handschuhfach im Nacken. Während Hackworth über die Brücke ritt, öffnete er es, weil er nachsehen wollte, ob es groß genug für seine Melone war, ohne daß er den Hut zusammenklappen, zusammendrücken, quetschen oder das makellose Rund der Krempe eindellen mußte. Die Antwort lautete, es war nur eine Winzigkeit zu klein. Aber Dr. X hatte die Umsicht besessen, einige Snacks darin zu verstauen: eine Handvoll Glückskekse, drei, um genau zu sein. Sie sahen gut aus. Hackworth nahm einen und brach ihn entzwei. Auf dem Papierstreifen befand sich eine Art heiter animiertes geometrisches Muster, lange Fäden, die übereinanderrollten und sich gegenseitig anstießen. Es kam Hackworth vage vertraut vor: Das sollten Schafgarbenstengel sein, wie sie Taoisten benutzten, um Erleuchtung zu erlangen. Aber statt ein Hexagramm des
I
Ging
zu bilden, reihten sie sich nacheinander auf und bildeten Buchstaben in einer pseudochinesischen Schrift, wie sie chinesische Ein-Sterne-Restaurants für ihre Schilder benutzten. Als der letzte an Ort und Stelle war, lautete die Nachricht:
S UCHE DEN A LCHIMISTEN .
»Herzlichen Dank, Dr. X«, fauchte Hackworth. Er beobachtete den Spruch noch eine Weile und hoffte, er würde sich in etwas Informativeres verwandeln, aber er war tot, nur ein Stück Abfall, jetzt und für alle Zeit.
Kidnapper bremste in einen leichten Galopp ab, durchquerte zielstrebig das Universitätsgelände, wandte sich nach Norden und überquerte eine Brücke zu der Halbinsel, auf der der größte Teil der Gemarkung Vancouver lag. Das Chevalin achtete umsichtig darauf, auf niemanden zu treten, und Hackworth lernte schnell, sich keine Sorgen zu machen und den Instinkten seines Beförderungsmittels zu vertrauen. Damit stand es ihm frei, den Blick über die Kulisse von Vancouver schweifen zu lassen, was nicht ratsam gewesen wäre, hätte er die Strecke mit einem Veloziped zurückgelegt. Bisher war ihm die geradezu irrsinnige Vielfalt seiner Umgebung noch gar nicht aufgefallen; jeder Passant schien seine eigene ethnische Minderheit zu sein, jeder mit eigenem Kostüm, Dialekt, Sektenzugehörigkeit und Stammbaum. Es schien, als würde früher oder später jeder Teil der Welt zu Indien werden, und damit vollkommen unbegreiflich für rechtschaffene kartesianische
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