Diamond Age - Die Grenzwelt
halten, sah er ab und zu Handgriffe, die jemand vor langer Zeit hineingeschnitzt zu haben schien.
Die Baumstämme waren Palimpseste. Zwei ragten, nicht ganz vertikal, wie in den unbeständigen Sand gebohrte Wurfpfeile aus dem Wasser heraus. Hackworth ging zwischen ihnen hindurch, und die Brandung schäumte um seine Knie. Er sah verwitterte Andeutungen von Gesichtern und wilden Tieren, die im Wald lebten, Raben, Adlern und Wölfen, zu organischen Strähnen aufgereiht. Das Wasser an seinen Beinen war bitter kalt, und er holte mehrmals pfeifend Luft, aber die Frau ging weiter; das Wasser reichte ihr mittlerweile bis zur Taille, und ihr Haar trieb auf der Oberfläche, so daß man die durchscheinenden Bilder wieder erkennen konnte. Dann verschwand sie unter einem zwei Meter hohen Brecher.
Die Welle warf Hackworth auf den Rücken und riß ihn eine kurze Strecke mit, während er mit Armen und Beinen ruderte. Als er das Gleichgewicht wiedererlangt hatte, blieb er einige Augenblicke sitzen, ließ kleinere Wellen gegen seine Taille und Brust plätschern und wartete, daß die Frau wieder auftauchte, um Luft zu holen. Aber sie erschien nicht wieder.
Da unten war etwas. Er rollte sich auf die Füße und watete ins Meer hinaus. Als ihm die Wellen gerade ins Gesicht spülten, berührte er etwas Hartes und Glattes mit den Füßen, das unter seinem Gewicht nachgab. Er wurde in die Tiefe gerissen, als sich das Wasser in eine unterirdische Höhle ergoß. Eine Luke schloß sich über seinem Kopf, und plötzlich atmete er wieder Luft. Das Licht hatte eine silberne Farbe. Er saß bis zur Brust im Wasser, das aber von einer Art Pumpensystem langsam abgesaugt wurde, und dann konnte er einen langen, silbernen Tunnel hinabsehen. Die Frau schritt einen Steinwurf von ihm entfernt dahin.
Hackworth war selbst schon in einigen solcher Tunnel gewesen, vornehmlich in Industrieanlagen. Der Eingang lag unterirdisch am Strand, aber der Rest bestand aus einem schwebenden Tunnel, einer mit Luft gefüllten, auf dem Meeresgrund vertäuten Röhre. Das war eine billige Methode, Raum zu schaffen; die Nipponesen benutzten so etwas als Schlafquartiere für Gastarbeiter. Die Wände bestanden aus Membranen, die dem umliegenden Meerwasser Sauerstoff entzogen und Kohlendioxid abgaben, so daß die Tunnel, aus der Fischperspektive gesehen, wie heiße Spaghetti auf einem kalten Blechteller dampften, während sie zahllose Mikrobläschen kontaminiertes CO2 abgaben. Diese Röhren durchzogen das Wasser wie die Keimlinge, die aus unsachgemäß eingelagerten Kartoffeln wuchsen, gabelten sich von Zeit zu Zeit und trugen ihre eigenen Feeder vorwärts, damit man sie auf Kommando verlängern konnte. Am Anfang waren sie leer und zusammengefallen, aber wenn sie wußten, daß sie fertiggestellt waren, blähten sie sich mit erbeutetem Sauerstoff auf und wurden starr.
Nachdem das kalte Wasser aus Hackworths Ohren geflossen war, konnte er ein tiefes Trommeln hören, das er anfangs fälschlicherweise für das Tosen der Brandung über sich gehalten hatte; der konstante Rhythmus zog ihn an.
Hackworth schritt den Tunnel entlang und folgte der Frau, und das Licht wurde immer trüber, je schmaler der Tunnel wurde. Er vermutete, daß die Tunnelwände Mediatroneigenschaften besaßen, da er aus den Augenwinkeln immerzu etwas sah, das verschwand, sobald er sich umdrehte. Er hatte angenommen, daß sie bald eine Kammer erreichen würden, eine Wölbung des Tunnels, wo die Freunde dieser Frau saßen und ihre riesigen Trommeln schlugen, aber ehe es soweit war, kam er an eine Stelle, wo vollkommene Dunkelheit herrschte, so daß er auf die Knie sinken und sich vorantasten mußte. Als er die straffe, aber nachgiebige Tunnelwand mit den Knien berührte, spürte er das Trommeln in den Knochen und stellte fest, daß Audioanlagen in das Material eingearbeitet waren; das Trommeln konnte überall sein; auch eine Aufzeichnung wäre denkbar gewesen. Vielleicht war die Erklärung auch viel einfacher, vielleicht leiteten die Röhren den Schall nur ungewöhnlich gut, und andernorts in dem Tunnelsystem hämmerten einfach Leute gegen die Wände.
Er berührte den Tunnel mit dem Kopf. Er ließ sich auf den Bauch nieder und kroch weiter. Schwärme winziger, funkelnder Lichter tanzten vor seinem Gesicht, und er stellte fest, daß es sich um seine Hände handelte; Nanositen, die Licht abgaben, waren in seine Haut eingesetzt worden. Einer von Dr. X' Ärzten mußte es getan haben; aber sie hatten erst angefangen
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