Diamond Age - Die Grenzwelt
die Augen. »Das kannst du sagen?«
»Ja«, sagte sie in einem Tonfall, der ihn abschrecken sollte, nach dem Grund zu fragen.
»Dann bezahlt sie die Rechnung wahrscheinlich sowieso nicht. Der zahlende Kunde ist ein anderer. Du mußt den zahlenden Kunden aufspüren, und dann Nell.« Carl unterbrach den Blickkontakt, schüttelte den Kopf und versuchte erfolglos, mit seinen kalten Lippen zu pfeifen. »Schon der erste Schritt ist unmöglich.«
Miranda reagierte verblüfft. »Das hört sich ziemlich endgültig an. Ich hatte ›schwierig‹ oder ›teuer‹ erwartet. Aber –«
»Nee. Es ist unmöglich. Oder vielleicht« – Carl dachte eine Weile nach – »vielleicht ist ›in astronomischem Grade unwahrscheinlich ein besserer Ausdruck.« Dann sah er leicht erschrocken aus, als er Mirandas veränderte Miene sah. »Man kann die Verbindung nicht einfach zurückverfolgen. So funktionieren die Medien nicht.«
»Wie funktionieren die Medien dann?«
»Schau zum Fenster hinaus. Nicht zum Bund – sieh dir die Yan'an Road an.«
Miranda drehte den Kopf herum und sah zu dem großen Fenster hinaus, das teilweise mit farbenfroher Coca-Cola-Werbung und Auszügen aus der Speisekarte beschriftet war. Auf der Yan'an Road wimmelte es wie bei allen bedeutenden Straßen in Shanghai von den Schaufenstern auf der einen bis zu den Schaufenstern auf der anderen Seite von Menschen auf Fahrrädern und Powerskates. An vielen Stellen war der Verkehr so dicht, daß man zu Fuß schneller voran kam. Ein paar Halbspurfahrzeuge standen reglos da, polierte Findlinge in einem trägen braunen Strom.
Der Anblick war ihr so vertraut, daß Miranda gar nichts sah. »Wonach soll ich suchen?«
»Siehst du, daß niemand mit leeren Händen unterwegs ist? Alle tragen etwas.«
Carl hatte recht. Jeder trug mindestens eine kleine Plastiktüte mit etwas darin bei sich. Viele Leute, zum Beispiel die Fahrradfahrer, beförderten schwerere Lasten.
»Nun behalte dieses Bild einen Moment im Gedächtnis und versuch dir vorzustellen, wie du ein globales Telekommunikationsnetz aufbaust.«
Miranda lachte. »Ich habe keine Grundlage, mir so etwas vorzustellen.«
»Aber gewiß doch. Bis jetzt hast du in den Begriffen des Telefonsystems in den alten Passiven gedacht. In diesem System gehörten zu jeder Transaktion zwei Teilnehmer – zwei Menschen, die eine Unterhaltung führten. Und sie waren mit einem Kabel verbunden, das durch eine zentrale Schalttafel führte. Was also sind die entscheidenden Merkmale dieses Systems?«
»Keine Ahnung - sag du es mir«, bat Miranda.
»Erstens, nur zwei Menschen oder Einheiten können interagieren. Zweitens, es wird eine spezielle Verbindung benutzt, die nur zum Zweck des Gesprächs zustande kommt und danach wieder unterbrochen wird. Drittens, es liegt in der Natur der Sache, daß der Vorgang zentralisiert ist - ohne das zentrale Schaltbrett kann er nicht zustande kommen.«
»Okay, ich denke, bis hierher kann ich dir folgen.«
»Unser heutiges Mediensystem - mit dem wir beide unser Geld verdienen – ist nur insofern ein Nachkomme des Telefonsystems, als es für denselben Zweck genutzt wird, aber auch für viele, viele andere. Der entscheidende Punkt, den du nicht vergessen darfst, ist der, daß es sich
radikal von dem alten Telefonsystem unterscheidet.
Das alte Telefonsystem – und das Kabelfernsehen, sein technologischer Vetter - ging den Bach runter. Es ist vor Jahrzehnten abgestürzt und ausgebrannt, und wir mußten buchstäblich von vorne anfangen.«
»Warum? Es hat doch funktioniert, oder nicht?«
»Zuerst einmal mußte Interaktion zwischen mehr als einer Einheit möglich sein. Was meine ich mit Einheit? Nun, denk an die Raktiven. Denk an
Erste Klasse nach Genf.
Du befindest dich in diesem Zug – und zwei Dutzend andere Menschen. Manche dieser Menschen werden ragiert, sie sind also zufällig menschliche Wesen.
Aber andere - zum Beispiel die Kellner und Schaffner - sind nur Software-Roboter. Darüber hinaus steckt der Zug voller Requisiten: Juwelen, Geld, Waffen, Weinflaschen. Auch dabei handelt es sich jeweils um eine eigenständige Software – eine eigenständige Einheit. In der Fachsprache nennen wir sie Objekte. Der Zug ist ebenfalls ein Objekt, und auch die Landschaft, durch die er fährt. Die Landschaft ist ein gutes Beispiel. Zufällig handelt es sich um eine digitalisierte Karte von Frankreich. Woher stammt diese Karte? Haben die Schöpfer von
Erste Klasse nach Genf
ihre eigenen Vermesser hingeschickt, um eine
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