Diamond Age - Die Grenzwelt
war.
Bevor Nell es sich genauer ansehen konnte, nahm er ein Hemd von der Lehne eines Gartenstuhls und schlüpfte hinein. Dann unterzog er die Corgis etwa eine Minute lang einem strengen Kasernenhofdrill, wobei eine Fläche moosbewachsener Steinplatten als Exerzierplatz diente, und kritisierte ihre Vorstellung streng mit einer Stimme, die selbst durch die Glastür drang. »Ich werde in Kürze wieder bei Ihnen sein«, sagte er und verschwand eine Viertelstunde in einem Hinterzimmer. Als er wiederkam, trug er einen Tweedanzug und einen grobgestrickten Pullover über einem feinen weißen Hemd. Das Hemd schien so dünn zu sein, daß es unmöglich ein Hindernis für die anderen, unerträglich kratzenden Kleidungsstücke sein konnte, aber Constable Moore hatte ein Alter erreicht, in dem Männer ihre Körper den schlimmsten Reizungen aussetzen können - Whiskey, Zigarren, Kleidung aus Wolle, Dudelsäcke -, ohne etwas zu spüren, zumindest aber, ohne es sich anmerken zu lassen.
»Tut mir leid, daß wir einfach so hereingeplatzt sind«, sagte Rita, »aber auf unser Läuten hat niemand aufgemacht.«
»Nicht weiter schlimm«, sagte Constable Moore, nicht ganz überzeugend. »Es gibt einen Grund, weshalb ich nicht da oben lebe.« Er zeigte nach oben in die ungefähre Richtung der Klave New Atlantis. »Ich habe gerade versucht, das Wurzelgeflecht einer teuflischen Ranke zu ihrem Ursprung zurückzuverfolgen. Ich fürchte, es könnte Kudzu sein.« Der Constable kniff die Augen zusammen, als er das Wort aussprach, und Nell, die nicht wußte, was Kudzu war, hegte die Vermutung, wenn man Kudzu mit einem Schwert angreifen, verbrennen, erdrosseln, erschlagen oder in die Luft sprengen konnte, würde es keine große Chance in Constable Moores Garten haben - das heißt, sobald er dazu kam.
»Darf ich Ihnen einen Tee anbieten? Oder« - an Nell gewandt -»eine heiße Schokolade?«
»Klingt verlockend, aber ich kann nicht«, sagte Rita.
»Dann will ich Sie zur Tür bringen«, sagte Constable Moore und stand auf. Das kam so plötzlich, daß Rita etwas verblüfft zu sein schien, aber einen Augenblick später war sie fort und ritt mit Eierschale zur Mühle zurück.
»Nettes Mädchen«, murmelte Constable Moore in der Küche. »Anständig, was Sie für dich getan hat. Eine wirklich anständige junge Dame. Möglicherweise nicht sehr gut im Umgang mit Kindern. Besonders eigentümlichen Kindern.«
»Soll ich nun hier wohnen, Sir?« sagte Nell.
»Im Gartenhaus«, sagte er, als er das Zimmer mit einem dampfenden Tablett betrat, und nickte Richtung Glasfenster und Garten. »Steht seit einiger Zeit leer. Zu eng für einen Erwachsenen, wie geschaffen für ein Kind. Die Einrichtung dieses Hauses«, sagte er, »ist für einen Jugendlichen kaum geeignet.«
»Wer ist dieser furchteinflößende Mann?« sagte Nell und deutete auf das große Gemälde.
»Guan Di. Kaiser Guan. Ehedem ein Soldat namens Guan Yu. Er war eigentlich nie Kaiser, aber später wurde er zum chinesischen Kriegsgott, und sie gaben ihm den Titel aus Respekt. Schrecklich respektvoll, diese Chinesen – das ist ihre beste und ihre schlechteste Eigenschaft.«
»Wie konnte ein Mann zu einem Gott werden?« fragte Nell »Indem er in einer extrem pragmatischen Gesellschaft lebte«, sagte Constable Moore nach längerem Nachdenken, bot aber keine weitere Erklärung. »Hast du übrigens das Buch bei dir?«
»Ja, Sir.«
»Du hast es nicht mit über die Grenze genommen?«
»Nein, Sir, gemäß Ihren Instruktionen.«
»Das ist gut. Die Fähigkeit, Befehle zu befolgen, ist etwas Nützliches, besonders wenn man bei einem Mann lebt, der daran gewöhnt ist, welche zu erteilen.« Als er das schrecklich ernste Gesicht sah, das Nell machte, schnaufte er und sah resigniert drein. »Ist nicht so wichtig, denk dran! Du hast Freunde an höchster Stelle. Wir versuchen nur, diskret zu sein.« Constable Moore brachte Nell ihre Tasse Kakao. Sie brauchte eine Hand für die Tasse und eine für die Untertasse, daher nahm sie die Hand aus dem Mund.
»Was hast du mit deiner Hand gemacht?«
»Geschnitten, Sir.«
»Laß sehen.« Der Constable nahm ihre Hand in seine und hielt den Daumen von der Handfläche weg. »Kein schlechter Schnitt. Sieht ganz neu aus.«
»Ich habe ihn von einem Ihrer Schwerter.«
»Ah, ja. Das tun sie gern, die Schwerter«, sagte der Constable zerstreut, dann runzelte er die Stirn und sah Nell wieder an. »Du hast nicht geweint«, sagte er, »und du hast dich nicht
Weitere Kostenlose Bücher