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Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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da vor sich ging.
    Von der Glastür aus konnte sie das Mediatron nicht sehen, das auf der ihr abgewandten Seite lag. Sein Licht überflutete das ganze Zimmer und bemalte den sonst so anheimelnden und gemütlichen Raum mit grell blitzenden Farben, die lange, eckige Schatten warfen. Constable Moore hatte sämtliche Möbel und anderen Hindernisse an die Wände geschoben, den chinesischen Teppich zusammengerollt und den Boden freigelegt, von dem Nell stets angenommen hatte, er bestünde aus Eiche, wie der Boden in ihrer Hütte; aber der Boden war tatsächlich selbst ein großes Mediatron, das im Vergleich zur Wand nur schwach leuchtete, aber eine Menge hochauflösendes Material zeigte: Textdokumente und detaillierte Grafiken, mit gelegentlichen Cine-Aufzeichnungen. Der Constable kroch auf Händen und Knien dazwischen herum und plärrte wie ein Kind, während sich Tränen in den flachen Mulden seiner Brillengläser sammelten und auf das Mediatron tropften, das sie unheimlich von unten beleuchtete.
    Nell wollte unbedingt hineingehen und ihn trösten, hatte aber zu große Angst. Sie stand in starrer Unentschlossenheit da und beobachtete ihn, und dabei dachte sie, daß die Lichtblitze des Mediatrons sie an Explosionen erinnerten - besser gesagt, an Bilder von Explosionen. Sie wich zurück und verzog sich in ihr kleines Häuschen.
    Eine halbe Stunde später hörte sie den unheimlichen Lärm von Constable Moores Dudelsack aus dem Bambushain. Früher hatte er das Instrument manchmal zur Hand genommen und ihm ein paar Quieklaute entlockt, aber dies war das erstemal, daß sie ihn eine richtige Melodie spielen hörte. Sie war keine Expertin, was den Dudelsack betraf, fand aber, daß der Constable nicht schlecht spielte. Er spielte ein langsames Stück, eine Totenklage, die so traurig war, daß sie Nell fast das Herz brach; der Anblick des Constable, der auf Händen und Knien weinte, war nicht halb so traurig gewesen wie diese Musik, die er jetzt spielte.
    Mit der Zeit wechselte er zu einer schnelleren und unbeschwerteren Kriegsmusik über. Nell trat aus ihrem Häuschen in den Garten. Der Constable war nur ein Schattenriß, den die vertikalen Bambusstämme in hundert Scheibchen zerschnitten, aber wenn er sich hin und her bewegte, fügte eine optische Täuschung sie zum Gesamtbild zusammen. Er stand an einer Stelle im Mondschein. Er hatte sich umgezogen: Jetzt trug er seinen Kilt, ein Hemd und ein Barett, das zu einer Art Uniform zu gehören schien. Wenn seine Lungen leer waren, holte er tief Luft, so daß seine Brust sich hob und eine Sammlung silberner Anstecknadeln und Abzeichen im Mondlicht glänzten.
    Er hatte die Tür offengelassen. Sie betrat das Haus und machte sich gar nicht erst die Mühe, leise zu sein, da er sie über das Geräusch des Dudelsacks hinweg unmöglich hören konnte.
    Die Wand und der Boden waren beide gigantische Mediatrons, und beide waren mit einer Vielzahl von Medienfenstern überzogen, Hundert und Aberhunderte separater Scheiben, wie eine Mauer an einer belebten Geschäftsstraße, wo Plakate und Zettel in solcher Vielzahl angeklebt worden sind, daß sie den gesamten Untergrund vollkommen zugedeckt haben. Manche der Flächen waren nur so groß wie Nells Handteller, manche so groß wie Wandplakate. Bei den meisten auf dem Boden handelte es sich um Fenster in Schriftdokumente, Zahlengitter, Diagramme (jede Menge Organisationsstammbäume) oder wunderbare Karten, die mit atemberaubender Präzision und Klarheit gezeichnet waren; Flüsse, Berge und Dörfer waren mit chinesischen Schriftzeichen versehen. Während Nell dieses Panorama bewunderte, erschrak sie ein- oder zweimal, weil sie den Eindruck hatte, als würde etwas Kleines auf dem Boden kriechen; aber es befanden sich keine Insekten in dem Zimmer, es handelte sich nur um eine Illusion, die von winzigen Fluktuationen der Karten und Reihen und Zahlenkolonnen verursacht wurde. Das alles war raktiv wie die Worte in der Fibel, aber im Gegensatz zu der Fibel reagierten sie nicht auf das, was Nell sagte, sondern, vermutete sie, auf weit entfernte Ereignisse.
    Als sie schließlich den Blick vom Boden losreißen konnte und sich den Mediatrons an den Wänden zuwandte, sah sie, daß die Fenster dort weitaus größer waren und in fast allen Cine-Aufzeichnungen liefen, die allerdings größtenteils im Standbildmodus erstarrt waren. Die Bilder waren überaus klar und deutlich. Bei manchen handelte es sich um Landschaften: ein Abschnitt einer Landstraße, eine Brücke

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