Diamond Age - Die Grenzwelt
daher müssen wir uns mit Mutmaßungen begnügen«, sagte Miss Matheson. »Aber ich vermag keine Fehler in deinen Schlußfolgerungen zu entdecken. Und ich denke auch nicht, daß sie Furien oder Parzen sind.«
»Es ist ein Internat, was bedeutet, daß viele Schüler hier wohnen. Aber du wirst nicht hier wohnen«, sagte Rita, »weil es nicht angemessen wäre.«
»Warum wäre es nicht angemessen?«
»Weil du von zu Hause weggelaufen bist, was rechtliche Probleme aufwerfen würde.«
»Verstieß es gegen das Gesetz, daß ich weggelaufen bin?«
»In manchen Stämmen werden Kinder als wirtschaftlicher Aktivposten ihrer Eltern angesehen. Wenn also eine Phyle Flüchtlingen einer anderen Unterschlupf gewährt, hat das möglicherweise wirtschaftliche Folgen, die unter das GÖP fallen.«
Rita sah Nell an und musterte sie kühl. »Du hast eine Art Wohltäter in New Atlantis. Ich weiß nicht, wer. Ich weiß nicht, warum.
Aber es sieht so aus, als könnte diese Person nicht das Risiko eingehen, Opfer rechtlicher Schritte nach dem GÖP zu werden. Daher wurden Vereinbarungen getroffen, daß du vorläufig in Dovetail bleibst.
Wir wissen, daß einige Freunde deiner Mutter dich schlecht behandelt haben, daher sind wir in Dovetail geneigt, dich aufzunehmen. Aber wir können dich nicht in der Mühlengemeinschaft behalten, denn wenn wir Ärger mit dem Protokoll bekommen, könnte das die geschäftlichen Beziehungen zu unseren Kunden in New Atlantis beeinträchtigen. Daher wurde beschlossen, daß du bei dem einzigen Menschen bleiben sollst, der keinerlei Kunden hier hat.«
»Wer ist das?«
»Du hast ihn schon kennengelernt«, sagte Rita.
Das Haus von Constable Moore war spärlich erleuchtet und so vollgestopft mit alten Sachen, daß selbst Nell an manchen Stellen nur seitwärts gehen konnte. Lange Streifen aus vergilbtem Reispapier, mit großen chinesischen Schriftzeichen und mit roten Siegelwachsflecken gesprenkelt, hingen an einem Gestänge, das knapp einen halben Meter unter der Decke verlief. Nell folgte Rita um eine Ecke in ein noch kleineres, dunkleres und vollgestopfteres Zimmer, dessen vornehmlicher Schmuck aus dem großen Gemälde eines wütenden Burschen, der einen Fu-Manchu-Schnurrbart, ein Ziegenbärtchen und buschige Koteletten, die vor seinen Ohren wuchsen und bis zu den Achselhöhlen hinabhingen, eine reich verzierte Rüstung und einen mit Löwenköpfen geschmückten Kettenpanzer trug. Nell wich unwillkürlich vor diesem finsteren Bild zurück, stolperte über die Pfeife eines Dudelsacks auf dem Boden und fiel gegen einen großen Eimer aus gehämmertem Kupfer, der ein gewaltiges Scheppern von sich gab. Blut quoll aus einem glatten Schnitt an ihrem Daumenballen, und Nell sah, daß der Eimer als Behältnis für eine Sammlung verschiedenartiger alter rostiger Schwerter benutzt wurde.
»Alles in Ordnung?« fragte Rita. Sie zeichnete sich im blauen Licht ab, das durch eine Glastür hereindrang. Nell schob den Daumen in den Mund und richtete sich auf.
Durch die Glastür konnte man in den Garten von Constable Moore sehen, einen Dschungel mit Geranien, Fuchsschwanzgras, Glyzinien und Corgihäufchen. Auf der anderen Seite eines kleinen khakifarbenen Teichs ragte ein Gartenhäuschen empor. Es war, wie das Hauptgebäude, aus rötlichen Backsteinen erbaut und hatte ein Dach aus graugrünen, derben Schindeln. Constable Moore selbst konnte man hinter einer Abschirmung etwas kümmerlicher Rhododendronbüsche sehen, wo er sich verbissen mit einer Schaufel zu schaffen machte und dabei unablässig von den Corgis behelligt wurde, die nach seinen Knöcheln schnappten.
Ein Hemd trug er nicht, aber
was
er trug, war ein
Rock:
ein rotkariertes Ding. Nell fiel diese Ungereimtheit kaum auf, weil die Corgis hörten, wie Rita den Riegel der Glastür zurückschob, und kläffend auf sie zugerannt kamen, was wiederum die Aufmerksamkeit des Constable selbst auf sich zog, der auf sie zukam und dabei durch das dunkle Glas blinzelte, und als er hinter den Rhododendrons vorkam, stellte Nell fest, daß mit seinem Oberkörper etwas nicht in Ordnung war. Im großen und ganzen war er wohlproportioniert und muskulös, wenn auch etwas beleibt um die Taille, jedoch offenbar bei bester Gesundheit. Aber seine Haut war zweifarbig, was ihr ein marmoriertes Aussehen verlieh. Es sah aus, als hätten sich Würmer durch seinen Oberkörper gefressen und ein Netz von Durchgängen im Inneren geschaffen, das später mit etwas nicht ganz Passendem verfüllt worden
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