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Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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hörte weiter zu, strich sich ab und an durch den weißen Bart, wahrte ansonsten aber ein überaus ernstes und aufmerksames Gesicht. Schließlich kam sie zu dem Teil mit Burt, wie sie versucht hatte, ihn mit dem Schraubenzieher zu töten und wie er sie die Treppe hinunter verfolgt hatte, wo er offenbar seinem Schicksal in Gestalt eines geheimnisvollen, kahlköpfigen Chinesen begegnete. Das fand der Constable besonders interessant und stellte viele Fragen, zuerst über die genaue taktische Durchführung des Schraubenzieherangriffs, dann über den Tanzstil des chinesischen Gentlemans, und was für Kleidung er getragen hatte.
    »Seit dieser Nacht bin ich wütend auf meine Fibel«, sagte Nell.
    »Warum?« entgegnete der Constable mit überraschter Miene, obwohl er kaum überraschter war als Nell selbst. Nell hatte an diesem Abend eine bemerkenswerte Zahl von Dingen
gesagt,
ohne sie
zuerst gedacht
zu haben, wenn sie sich recht erinnerte; jedenfalls
glaubte
sie nicht, daß sie vorher schon einmal daran gedacht hatte.
    »Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß sie mich in die Irre geführt hat. Sie ließ mich annehmen, daß es leicht wäre, Burt zu töten, und daß mein Leben dadurch besser werden würde; aber als ich versuchte, den Vorschlag in die Praxis umzusetzen...« Sie wußte nicht, wie sie fortfahren sollte.
    »... ist dein Leben weitergegangen«, sagte der Constable. »Mädchen, du mußt doch zugeben, daß dein Leben mit dem toten Burt besser war als dein Leben mit dem lebendigen Burt.«
    »Stimmt.«
    »Also hatte die Fibel damit recht. Nun ist es in der Praxis weitaus komplizierter, Menschen zu töten, als in der Theorie, da will ich dir gerne zustimmen. Aber ich denke, das wird nicht der einzige Fall bleiben, wo du feststellst, daß das Leben komplizierter als das ist, was du in deinem Buch liest. Das ist die Lektion des Schraubenziehers, und du tätest gut daran, sie nicht zu vergessen. Es läuft darauf hinaus, daß du auch bereit sein mußt, aus anderen Quellen als deinem Zauberbuch zu lernen.«
    »Aber welchen Nutzen hat das Buch dann?«
    »Ich denke, es ist außerordentlich nützlich. Dir fehlt nur noch der Kniff, seine Lektionen im richtigen Leben anzuwenden. Nehmen wir«, sagte der Constable, nahm die Serviette vom Schoß und knüllte sie auf der Tischplatte zusammen, »einmal etwas ganz Konkretes, zum Beispiel, wenn man Leute windelweich prügelt.« Er stand auf und stapfte in den Garten hinaus. Nell lief hinter ihm her. »Ich habe gesehen, daß du Kampfsportübungen machst«, sagte er und fuhr mit einer gebieterischen Stimme, einer Truppenansprachen im Freien vorbehaltenen Stimme fort. »Kampfsport bedeutet, daß man Leute windelweich prügelt. Jetzt versuch mal dein Glück mit mir.«
    Es folgten Verhandlungen, in deren Verlauf Nell klären wollte, ob der Constable es tatsächlich ernst meinte. Nachdem das geklärt war, setzte sie sich auf die Bodenplatten und zog ihre Schuhe aus. Der Constable beobachtete sie mit hochgezogenen Brauen.
    »Oh, das ist wirklich famos«, sagte er. »Alle Bösewichter sollten wirklich vor der kleinen Nell auf der Hut sein – es sei denn, sie hat gerade ihre verdammten Schuhe an.«
    Nell machte ein paar Dehnübungen und überhörte weitere sarkastische Anmerkungen des Constable. Sie verbeugte sich vor ihm, aber er winkte ab. Sie nahm die Haltung ein, die Dojo ihr gezeigt hatte. Als Reaktion darauf bewegte der Constable die Füße etwa zwei Zentimeter weiter auseinander und streckte den Bauch vor, was offenbar der vorgeschriebenen Grundstellung einer geheimnisvollen schottischen Kampftechnik entsprach.
    Lange Zeit geschah nichts außer einer Menge Herumtänzeln. Das heißt, Nell tänzelte, während der Constable ziellos herumstapfte. »Was ist?« fragte er. »Kannst du dich nur verteidigen?«
    »Hauptsächlich, Sir«, sagte Nell. »Ich nehme an, es lag nicht in der Absicht der Fibel, mir beizubringen, wie man Leute angreift.«
    »Ach, und was soll das nützen?« sagte der Constable höhnisch, und plötzlich streckte er einen Arm aus und packte Nell an den Haaren - nicht so fest, daß es weh tat. Er hielt sie ein paar Augenblicke fest, dann ließ er sie los. »Damit geht die erste Lektion zu Ende«, sagte er.
    »Sie meinen, ich sollte mir die Haare abschneiden?«
    Der Constable sah schrecklich enttäuscht aus. »O nein«, sagte er. »Schneid dir nie-, nie-, niemals die Haare ab. Wenn ich dich am Handgelenk gepackt hätte« - und das tat er -, »würdest du dir dann den

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