Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
Vom Netzwerk:
Arm abschneiden?«
    »Nein, Sir.«
    »Hat dir die Fibel beigebracht, daß Leute dich am Haar ziehen könnten?«
    »Nein, Sir.«
    »Hat sie dir beigebracht, daß die Freunde deiner Mutter dich verprügeln und deine Mutter dir nicht beistehen würde?«
    »Nein, Sir, nur insofern, als sie mir Geschichten von Menschen erzählt hat, die Böses tun.»
    »Daß Menschen Böses tun, ist eine gute Lektion. Was du vor wenigen Wochen da drinnen gesehen hast« – Nell wußte, daß er damit den geköpften Soldaten auf dem Mediatron meinte –, »ist eine Anwendung dieser Lektion, aber sie ist zu offensichtlich, um von Nutzen zu sein. Ah, aber daß deine Mutter dich nicht vor ihren Freunden beschützt hat - das ist schon subtiler, oder nicht?
    Nell«, fuhr der Constable fort und deutete durch seinen Tonfall an, daß die Lektion zu Ende ging, »der Unterschied zwischen unwissenden und gebildeten Menschen liegt darin, daß letztere mehr Fakten kennen. Das hat aber nichts damit zu tun, ob sie dumm oder intelligent sind. Der Unterschied zwischen dummen und intelligenten Menschen – und das trifft zu, ob sie nun gebildet sind, oder nicht –, besteht darin, daß intelligente Menschen mit Subtilität umgehen können. Sie stehen zweideutigen oder gar widersprüchlichen Situationen nicht fassungslos gegenüber – sie rechnen sogar damit und werden argwöhnisch, wenn etwas zu eindeutig ist.
    Mit deiner Fibel hast du ein Hilfsmittel, das dich höchst gebildet machen kann, aber es kann dich niemals intelligent machen. Das bringt nur das Leben fertig. Dein bisheriges Leben hat dir alle Erfahrungen gegeben, die du brauchst, um intelligent zu sein, aber du mußt über diese Erfahrungen nachdenken. Wenn du nicht darüber nachdenkst, geht es dir in psychologischer Hinsicht schlecht. Wenn du aber darüber nachdenkst, dann wirst du nicht nur gebildet, sondern wahrhaft intelligent, und dann wirst du mir in ein paar Jahren wahrscheinlich Anlaß geben, mir zu wünschen, ich wäre einige Jahrzehnte jünger.«
    Der Constable drehte sich um, ging in sein Haus zurück und ließ Nell allein im Garten stehen, wo sie über die Bedeutung seiner letzten Worte nachgrübelte. Sie vermutete, daß es zu den Dingen gehörte, die sie später verstehen würde, wenn sie intelligent geworden war.
     

Carl Hollywood kehrt von außerhalb zurück;
er und Miranda unterhalten sich über Status und Zukunft ihrer Karriere als Raktive.
    Carl Hollywood kam von einer einmonatigen Reise nach London zurück, wo er alte Freunde besucht, sich Live-Theater angesehen und persönliche Kontakte mit einigen der großen Entwickler von Raktiven abgeschlossen hatte, wobei er hoffte, daß er dem Theater einige Verträge zuschanzen konnte. Als er zurückkam, gab das gesamte Ensemble eine Party für ihn in der kleinen Bar des Theaters. Miranda dachte, daß sie eine ganz gute Figur machte.
    Aber am nächsten Tag fing er sie hinter der Bühne ab. »Was ist los?« fragte er. »Und ich meine das nicht in der üblichen beiläufigen Weise. Ich will wissen, was mit dir los ist. Warum hast du in meiner Abwesenheit zur Abendschicht gewechselt? Und warum hast du dich bei der Party so merkwürdig benommen?«
    »Nun, Nell und ich haben ein paar interessante Monate hinter uns.«
    Carl sah sie verblüfft an, wich ein paar Schritte zurück und verdrehte die Augen.
    »Natürlich war ihre Auseinandersetzung mit Burt traumatisch, aber sie scheint sie ganz gut verarbeitet zu haben.«
    »Wer ist Burt?«
    »Ich habe keine Ahnung. Jemand, der sie körperlich mißhandelt hat. Offenbar ist es ihr kurzfristig gelungen, sich eine neue Lebenssituation zu schaffen, möglicherweise mit Unterstützung ihres Bruders Harv, der aber nicht bei ihr geblieben ist - er sitzt immer noch in derselben Tinte, während sich Nells Dasein entscheidend gebessert hat.«
    »Tatsächlich? Das sind gute Neuigkeiten«, sagte Carl nur halb sarkastisch.
    Miranda sah ihn lächelnd an. »Siehst du? Das ist genau der Zuspruch, den ich brauche. Ich spreche mit niemandem darüber, weil ich befürchte, sie könnten mich für verrückt halten. Danke. Mach weiter so.«
    »Wie sieht Nells neue Situation aus?« fragte Carl Hollywood zerknirscht.
    »Ich glaube, sie geht irgendwo zur Schule. Sie scheint neues Material zu lernen, das nicht explizit in der Fibel behandelt wird, und sie entwickelt bessere gesellschaftliche Umgangsformen, was darauf hindeutet, daß sie mehr Zeit mit Leuten höherer Gesellschaftsschichten

Weitere Kostenlose Bücher