Diamond Age - Die Grenzwelt
von ihnen zu sehen, wie sie durch eine Wildblumenwiese lief, den Würdigen Lorbeerkränze reichte, wie sie gemeinsam eine Fackel himmelwärts hielten oder sprühenden Lichterglanz über die empfänglichen Schülerinnen ausgössen.
Nells Lieblingsfach im Unterricht gehörte Thalia, der eine Stunde am Vormittag und eine Stunde am Nachmittag gewidmet waren. Wenn Miss Matheson einmal an dem alten Glockenstrang zog, der vom Chorgestühl herabhing, so daß ein einziger Schlag über das Schulgelände hallte, standen Nell und die anderen Mädchen in ihrer Klasse auf, machten einen Knicks vor ihrer Lehrerin, schritten in einer Reihe den Flur entlang zum Schulhof - und stürmten dann als chaotischer Haufen weiter, bis sie den Saal der Leibesertüchtigung erreichten, wo sie ihre schweren, kratzigen und komplizierten Uniformen aus- und leichtere, kratzige und komplizierte Uniformen anzogen, die ihnen mehr Bewegungsfreiheit gaben.
Den Blüte-Unterricht gab Miss Ramanujan oder eine ihrer Assistentinnen. Normalerweise machten sie am Vormittag etwas Anstrengendes, zum Beispiel Hockey, und am Nachmittag etwas Anmutiges, zum Beispiel Tänze für den Ballsaal oder sonderbare, von einigem Kichern begleitete Übungen, wie man ging, stand und saß wie eine Dame.
Glanz war das Fach von Miss Matheson, das sie freilich fast immer ihren Assistentinnen überließ, aber hin und wieder in einem alten Rollstuhl aus Holz und Korbgeflecht in die Klassenzimmer und wieder hinaus rollte. Während der Aglaia-Periode fanden sich die Mädchen in Gruppen von rund einem halben Dutzend zusammen, um Fragen zu beantworten oder Aufgaben zu lösen, die ihnen die Lehrer stellten: Beispielsweise zählten sie, wie viele Pflanzen-und Tierarten man auf einem dreißig Quadratzentimeter großen Fleck des Waldes hinter der Schule finden konnte. Sie führten eine Szene aus einem griechischen Schauspiel auf. Sie stellten mit Hilfe einer raktiven Simulation die häusliche Ökonomie eines Lakota-Stammes vor und nach Domestizierung des Pferdes nach. Sie entwarfen einfache Maschinen mit Nanoprozessoren und versuchten, sie mit dem MC zu kompilieren und funktionstüchtig zu machen. Sie woben Brokat und stellten Porzellan her wie früher die chinesischen Ladys. Und sie mußten eine Unmenge Geschichte lernen: zuerst die biblische, die griechische, die römische, dann die Geschichte von zahlreichen anderen Völkern der Welt, die im großen und ganzen als Hintergrund für Die Geschichte der Englischsprachigen Völker dienten.
Das letztgenannte Thema gehörte eigentümlicherweise nicht zum Glanz-Unterricht; es befand sich fest in den Händen von Miss Stricken, einer Lehrerin von Frohsinn.
Zusätzlich zu den beiden Stunden jeden Tag genoß Miss Stricken die Aufmerksamkeit der gesamten Schülerschaft einmal am Vormittag, einmal am Mittag und einmal am Abend. Zu diesen Zeiten bestand ihre Hauptaufgabe darin, die Schülerinnen zur Ordnung zu rufen; alle Schäfchen öffentlich zurechtzuweisen, die seit der letzten Versammlung vom rechten Weg abgewichen waren; sämtliche zufälligen Gedankengänge zu äußern, um die ihr Denken gerade kreiste; und schließlich in ehrfurchtsvollem Tonfall Pater Cox anzusagen, den hiesigen Vikar, der mit den Schülerinnen das Gebet sprach. Zwei Stunden am Sonntagmorgen hatte Miss Stricken alle Schülerinnen darüber hinaus ganz für sich allein, und sie konnte sie samstags bis zu acht Stunden einbestellen, sollte sie zu der Überzeugung gelangen, daß sie zusätzlicher Führung bedurften.
Als Nell zum erstenmal in einem Klassenzimmer von Miss Stricken Platz nahm, stellte sie fest, daß man ihr Pult perverserweise direkt hinter dem eines anderen Mädchens aufgestellt hatte, so daß sie nichts sehen konnte, außer der Haarschleife dieses Mädchens. Sie stand auf und versuchte, das Pult zu verschieben, sah aber, daß es am Boden festgeschraubt war. In der Tat hatte man sämtliche Pulte in einem perfekten, regelmäßigen Gitter in einer Richtung angeordnet - zu Miss Stricken hin, oder einer ihrer Assistentinnen, Miss Bowlware und Mrs. Disher.
Miss Bowlware unterrichtete Geschichte der Englischsprachigen Völker, angefangen von den Römern in Londinium, über die Eroberung durch die Normannen, die Magna Charta, die Rosenkriege, die Renaissance bis zum Bürgerkrieg; aber so richtig in Fahrt kam sie erst bei der Georgianischen Epoche, als sie ihnen mit Schaum vor dem Mund von den Unzulänglichkeiten jenes syphilitischen Monarchen berichtete, der die
Weitere Kostenlose Bücher