Diamond Age - Die Grenzwelt
Bild zeigte eine Krähe, die über Prinzessin Nell auf einem Ast saß und eine Halskette im Schnabel hielt. Elf juwelenbesetzte Schlüssel an einer Goldkette. Prinzessin Nell hatte sie um den Hals getragen; offenbar schilderte die nächste Episode in dem Buch, wie die Krähe ihr diese Kette im Schlaf stahl. Unter der Illustration stand ein Gedicht, das die Krähe von ihrem Ast heruntersprach:
Gärten, Schlösser, Gold, Juwelen
Betören aller Narren Seelen, Und auch die der kleinen Nell.
Doch König Kojote und seine Kräh'n, Die sind so klug, gewitzt und hell, Die steigern ihre Macht im Handumdrehn, Und verstecken den Kram sekundenschnell.
Nell schlug das Buch zu. Im Augenblick fand sie das zu niederschmetternd, um auch nur darüber nachzudenken. Sie sammelte diese Schlüssel fast ihr ganzes Leben lang. Den ersten hatte sie König Elster abgenommen, als sie und Harv gerade in Dovetail eingetroffen waren. Die anderen zehn hatte sie in den seither vergangenen Jahren gesammelt. Das hatte sie bewerkstelligt, indem sie durch die Länder der Feenkönige und -königinnen reiste, die die Schlüssel besaßen, und die Tricks anwendete, die sie von ihren Freunden der Nacht gelernt hatte. Jeden Schlüssel hatte sie auf eine andere Art und Weise bekommen.
Einer der Schlüssel, die sie nur unter allergrößten Schwierigkeiten bekommen hatte, gehörte einer alten Feenkönigin, die jeden Trick durchschaute, den Nell sich ausdenken konnte, und jeden Angriff abwehrte. Schließlich hatte sich Nell in ihrer Verzweiflung der Gnade der Königin ausgeliefert und ihr die traurige Geschichte von Harv erzählt, der im Dunklen Schloß gefangen saß. Die Königin hatte Nell eine gute Tasse Hühnersuppe hingestellt und ihr den Schlüssel mit einem Lächeln überreicht.
Wenig später hatte Ente einen hübschen jungen Enterich am Wegesrand gefunden und war mit ihm fortgeflogen, um eine Familie zu gründen. Purpur und Prinzessin Nell reisten danach mehrere Jahre gemeinsam, und in vielen dunklen Nächten hatte Purpur Nell am Lagerfeuer unter dem Vollmond Geheimnisse aus ihren Zauberbüchern oder aus alten Überlieferungen offenbart.
Jüngst hatten sie tausend Meilen auf dem Rücken von Kamelen zurückgelegt und eine unermeßliche, von Dschinns, Dämonen, Sultanen und Kalifen bevölkerte Wüste durchquert und schließlich die Zwiebeltürme im großen Palast des dortigen Feenkönigs - selbst ein Dschinn mit großer Macht - erreicht, der über die Wüstenländer herrschte. Prinzessin Nell hatte einen komplizierten Plan ersonnen, um in die Schatzkammer des Dschinns zu gelangen. Damit sie ihn ausführen konnte, mußten sie und Purpur zwei Jahre in der Stadt um den Palast herum leben und viele Ausflüge in die Wüste unternehmen, um nach magischen Laternen, Ringen, geheimen unterirdischen Höhlen und dergleichen zu suchen.
Schließlich drangen Prinzessin Nell und Purpur in die Schatzkammer des Dschinnkönigs und fanden den elften Schlüssel. Aber der Dschinn selbst hatte sie überrascht und in Gestalt einer feurspeienden Schlange angegriffen. Purpur hatte sich in einen riesigen Adler mit metallenen Schwingen und Klauen verwandelt, die nicht verbrennen konnten - sehr zur Überraschung von Nell, die nie geahnt hatte, daß ihre Weggefährtin über diese Gabe verfügte.
Der Kampf zwischen Purpur und dem Dschinn dauerte einen Tag und eine Nacht, in der die Kontrahenten sich in alle Arten von phantastischen Geschöpfen verwandelten und einander mit vernichtenden Zaubersprüchen belegten, bis schließlich der ganze Palast in Trümmern lag, die Wüste im Umkreis von vielen Meilen verbrannt war und Purpur und der Dschinn beide tot auf dem Boden der einstigen Schatzkammer lagen.
Nell hatte den elften Schlüssel vom Boden aufgehoben, an ihrer Kette befestigt, Purpurs Leichnam eingeäschert und die Asche in der Wüste verstreut, während sie viele Tage lang zu den Bergen und dem grünen Land wanderte, wo ihr die elf Schlüssel nun gestohlen worden waren.
Nells Erlebnisse in der Schule; eine Konfrontation mit Miss Stricken;
die Qualen des Nachsitzens;
Miss Mathesons Unterrichtsphilosophie;
drei Freundinnen gehen getrennte Wege.
Aglaia
Glanz
Euphrosyne
Frohsinn
Thalia
Blüte
Die Namen der drei Grazien waren überall, innen wie außen, in Miss Mathesons Akademie zu lesen, und allerorten fanden sich Plastiken, Gemälde und Skulpturen, welche die drei fraglichen Damen selbst darstellten. Nell konnte kaum den Blick auf etwas richten, ohne eine
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