Diamond Age - Die Grenzwelt
einen wirbelnden Sturm silbernen Nebels hüllte.
Nell blätterte die Seite um und sah genau das vor sich, was das Buch beschrieben hatte. Es handelte sich um eine Illustration über beide Seiten - ein Ölgemälde, vermutete sie. Jeder einzelne Teil sah so wirklichkeitsgetreu wie eine Cine-Aufzeichnung aus. Aber die Geometrie war komisch und borgte sich einige suprarealistische Tricks aus der klassischen chinesischen Landschaftsmalerei; die Berge waren zu steil, sie erstreckten sich bis in alle Ewigkeit in die Ferne, und wenn Nell genauer hinsah, konnte sie hohe Schlösser erkennen, die sich an die unvorstellbaren Steilhänge schmiegten, wo bunte Banner mit dynamischen Wappen auf ihren Türmen flatterten: Die Greife duckten sich, die Löwen brüllten, und sie konnte diese Einzelheiten ausnahmslos erkennen, obwohl die Schlösser meilenweit entfernt sein müßten; jedesmal, wenn sie etwas ansah, wurde es größer und wuchs zu einem neuen Bild, und wenn ihre Aufmerksamkeit nachließ - wenn sie blinzelte oder den Kopf schüttelte -, schnalzte es in das ursprüngliche Panorama zurück.
Damit verbrachte sie lange Zeit, da es mindestens Dutzende Schlösser gab, und sie hatte den Eindruck, wenn sie das Bild weiter studierte, würde sie endlos weiterzählen können. Aber es gab nicht nur Schlösser - es gab Berge, Städte, Flüsse, Seen, Vögel und Tiere, Karawanen und alle Arten von Reisenden.
Eine Zeitlang betrachtete sie eine Gruppe von Reisenden, die ihre Wagen auf eine Wiese am Straßenrand gezogen und ein Lager aufgeschlagen hatten, wo sie händeklatschend um ein Feuer saßen, derweil einer von ihnen mit einem kleinen, blasebalgbetriebenen Dudelsack eine Melodie spielte, die man aufgrund der großen Entfernung kaum hören konnte. Dann wurde ihr klar, daß das Buch schon eine ganze Weile nichts mehr gesagt hatte. »Was ist dann passiert?« fragte sie.
Die
Illustrierte Fibel für die junge Dame
sagte nichts.
»Nell suchte nach einem sicheren Abstieg«, versuchte sie ihr Glück.
Ihre Perspektive änderte sich. Ein Schneefeld kam in Sicht. »Nein, warte!« sagte sie. »Nell stopfte sauberen Schnee in ihre Wasserflasche.«
Nell konnte sehen, wie ihre bloßen rosa Hände in dem Bild Schnee zusammenschoben und Stück für Stück in den Flaschenhals stopften. Als die Flasche voll war, steckte sie den Korken wieder darauf (das mußte Nell nicht eigens erwähnen) und ging auf der Suche nach einer nicht so steilen Stelle um den Felsen herum. Auch das mußte Nell nicht in allen Einzelheiten erklären; in dem Raktiven suchte sie den Felsen auf eine einigermaßen logische Art und Weise ab und fand nach wenigen Minuten eine in den Stein gehauene Treppe, die sich endlos die Bergflanke hinabwand, bis sie tief unten in einer Wolkenschicht verschwand. Prinzessin Nell ging die Treppe eine Stufe nach der anderen hinunter.
Nach einer Weile versuchte Nell ein Experiment: »Prinzessin Nell ging die Treppe viele Stunden lang hinunter.«
Das löste einige Überblendungen aus, wie sie sie in alten Passiven gesehen hatte: Ihre momentane Perspektive blendete über in eine Großaufnahme ihrer Füße, die einige Stufen hinabschritten, dann folgte eine Totale deutlich weiter bergab, danach eine Nahaufnahme von Prinzessin Nell, wie sie ihre Wasserflasche aufschraubte und geschmolzenen Schnee trank; wieder eine Totale weiter unten-Nell setzte sich zum Ausruhen hin; ein fliegender Adler; die Wolkenschicht, die langsam näher kam; hohe Bäume; ein Abstieg durch Nebel; und zuletzt Nell, wie sie erschöpft die letzten zehn Stufen hinabstolperte und auf eine Lichtung in einem dunklen Wald gelangte, auf der ein dichter Teppich brauner Fichtennadeln lag. Es dämmerte, und die Wölfe fingen an zu heulen. Nell traf die üblichen Vorkehrungen für die Nacht, entfachte ein Lagerfeuer und legte sich zum Schlafen hin.
Das war eine gute Stelle, um aufzuhören, daher klappte Nell das Buch zu. Sie würde später weiterlesen müssen.
Sie hatte gerade das Land des ältesten und mächtigsten Feenkönigs betreten. Die zahlreichen Schlösser an den Berghängen gehörten seinen Herzögen und Fürsten, und sie hegte den Verdacht, daß sie allen einen Besuch abstatten mußte, bevor sie bekam, was sie suchte. Das war kein schnelles Abenteuer für einen Samstagmorgen. Aber als sie das Buch gerade zuschlug, tauchten neue Worte und eine Illustration auf der Seite auf, die sie gelesen hatte, und diese Illustration veranlaßte sie, das Buch wieder aufzuschlagen. Das
Weitere Kostenlose Bücher