Diamond Age - Die Grenzwelt
rechtschaffenen Amerikaner veranlaßt hatte, sich voller Abscheu von ihm loszusagen. Sie studierten die schrecklichsten Geschichten von Dickens, die man, wie Miss Bowlware ausdrücklich betonte, zwar viktorianische Literatur
nannte,
weil sie während der Regentschaft von Königin Victoria I.
geschrieben
wurden, die aber tatsächlich von vor-viktorianischen Zeiten handelten; und daß die Moral der ursprünglichen Viktorianer – die das alte britische Empire aufgebaut hatten – eine Reaktion gegen die Art von schändlichem Verhalten ihrer Eltern und Großeltern darstellte, die Mr. Dickens, ihr populärster Schriftsteller, so detailliert und überzeugend geschildert hatte.
Die Mädchen mußten wirklich und wahrhaftig an ihren Pulten Platz nehmen und ein paar Raktive spielen, die illustrierten, wie es gewesen war, in der damaligen Zeit zu leben: im großen und ganzen nicht sehr angenehm, selbst wenn man sich für die Option entschied, bei der alle Krankheiten ausgeblendet wurden. An dieser Stelle griff Mrs. Disher ein und sagte, wenn die Mädchen
das
schrecklich fanden, sollten sie sich ansehen, wie armselig die Menschen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts lebten. Nachdem sie aus den Raktiven alles über das Leben eines Kindes um 1990 in der Innenstadt von Washington, D. C, gelernt hatten, stimmten die meisten Schülerinnen darin überein, daß sie im Vergleich
dazu
jederzeit lieber in einer Fabrik im vor-viktorianischen England gelebt hätten.
Das alles bereitete nur die Bühne für eine dreiteilige parallele Untersuchung des britischen Empire, des Amerika vor Vietnam und der modernen Geschichte von New Atlantis. Im allgemeinen kümmerte sich Mrs. Disher um den modernen Stoff und alles im Zusammenhang mit Amerika.
Miss Stricken beaufsichtigte für gewöhnlich die große Prüfung am Ende jedes Semesters und jeder Unterrichtseinheit. Sie stürmte ins Klassenzimmer und erklärte, zu welchen Schlußfolgerungen sie gelangen sollten und achtete darauf, daß es auch alle begriffen. Außerdem hatte sie die Angewohnheit, wie ein Raubtier in die Klassenzimmer zu stürmen und allen Mädchen auf die Finger zu schlagen, die tuschelten, der Lehrerin Grimassen schnitten, Zettel weiterreichten, tagträumten, ihren Gedanken nachhingen, herumzappelten, sich kratzten, in der Nase bohrten, seufzten oder nicht geradesaßen.
Sie saß eindeutig in ihrem engen Büro nebenan und beobachtete sie über CineMonitore. Einmal saß Nell im Frohsinn-Unterricht und folgte aufmerksam dem Unterricht über das Landverpachtungsprogramm. Als sie hörte, wie die quietschende Tür von Miss Strickens Büro aufging, unterdrückte sie wie alle anderen den übermächtigen Drang, sich umzudrehen. Sie hörte Miss Strickens Absätze auf dem Flur, hörte das Surren eines Lineals und verspürte plötzlich stechende Schmerzen, die in ihren Knöcheln explodierten.
»Frisieren ist eine private und keine öffentliche Angelegenheit, Nell«, sagte Miss Stricken. »Die anderen Mädchen wissen das, und jetzt weißt du es auch.«
Nells Gesicht brannte vor Röte, und sie legte die unversehrte Hand wie einen Verband um die andere. Sie begriff überhaupt nichts, bis eines der anderen Mädchen auf Höhe der Schläfe eine Schraubenzieherbewegung mit dem Zeigefinger andeutete: Offenbar hatte Nell ihre Haare um den Finger gewickelt, was sie häufig tat, wenn sie in der Fibel las oder angestrengt über etwas nachdachte.
Verglichen mit richtigen Prügeln war das Lineal so eine alberne Form der Bestrafung, daß sie es nicht ernst nehmen konnte und die ersten Male richtig komisch fand. Aber im Lauf der Monate schien es immer schmerzhafter zu werden. Entweder wurde Nell weich, oder aber - was wahrscheinlicher schien -, sie begriff erst allmählich die volle Bedeutung der Strafe. Anfangs war sie so eine Außenseiterin gewesen, daß nichts eine Rolle spielte. Aber als sie im Unterricht brillierte und den Respekt von Lehrern wie Schülerinnen gleichermaßen erlangte, stand plötzlich ihr Stolz auf dem Spiel. Ein Teil von ihr wollte rebellieren, wollte alles wegwerfen, damit es nicht gegen sie verwendet werden konnte. Aber die anderen Fächer gefielen ihr so gut, daß sie es nicht fertigbrachte, weiter über die Möglichkeit nachzudenken.
Eines Tages beschloß Miss Stricken, ihre gesamte Aufmerksamkeit auf Nell zu konzentrieren. Das war nicht ungewöhnlich - es entsprach ihrer Angewohnheit, sich von Zeit zu Zeit einzelne Schülerinnen für eine Spezialbehandlung herauszupicken. Als
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