Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
Vom Netzwerk:
Tschang Jiang (wie die meisten seiner tausend Mithäftlinge ihn nannten) oder, wie Bud sich ausdrückte, des Jangtse. Die Mauern des Gefängnisses bestanden aus Bambusstäben im Abstand von einigen Metern, an deren Spitzen fröhlich orangefarbene Plastikfetzen flatterten. Noch ein Gerät war an Buds Knochen befestigt worden, und dieses Gerät wußte, wo die Mauern lagen. An manchen Stellen konnte man einen Toten unmittelbar außerhalb der Linie sehen, dessen Körper mit den leuchtenden Wundmalen von Freudenspendern übersät waren. Bud hatte sie für Selbstmörder gehalten, bis er Zeuge eines Lynchmords geworden war: Ein Häftling, der einem anderen Häftling angeblich etwas aus den Schuhen gestohlen hatte, wurde von dem Mob hochgehoben und von Hand zu Hand weitergereicht wie ein Rocksänger beim Surfen in der Menge, während er die ganze Zeit panisch nach etwas suchte, um sich festzuhalten. Als er die Grenze der Bambusstäbe erreichte, wurde er mit einem letzten Schubs hinausgestoßen, wo sein Körper buchstäblich explodierte, als er die unsichtbare Grenzlinie überschritt.
    Aber die allgegenwärtige Gefahr von Lynchjustiz war ein unbedeutendes Ärgernis im Vergleich mit den Moskitos. Als Bud eine Stimme in den Ohren hörte, die ihm sagte, daß er sich an der nordöstlichen Ecke der Anlage melden sollte, vergeudete er keine Zeit – teils, weil er weg wollte, und teils, weil sie ihn per Fernsteuerung hinbefördern konnten, wenn er sich weigerte. Sie hätten ihm auch sagen können, daß er direkt in den Gerichtssaal gehen und seinen Platz einnehmen sollte, und er hätte es getan, aber aus zeremoniellen Gründen schickten sie ihm einen Cop als Begleitung.
    Das Gerichtsgebäude war ein Zimmer mit hoher Decke in einem der alten Häuser am Bund, nicht üppig möbliert. An einem Ende befand sich eine erhöhte Plattform, darauf ein Klapptisch, über den ein rotes Tuch gebreitet war. In das rote Tuch war mit Goldfäden ein Muster eingestickt: ein Einhorn oder ein Drache oder irgend so ein Scheißdreck. Bud hatte Mühe, mythologische Tiere auseinanderzuhalten.
    Der Richter trat ein und wurde vom größeren seiner beiden Handlanger als Richter Fang vorgestellt: ein vierschrötiger Chinese mit rundem Kopf, der verlockend nach Mentholzigaretten roch. Der Constable, der Bud in den Gerichtssaal begleitet hatte, zeigte auf den Boden, worauf Bud, der den Wink mit dem Zaunpfahl verstand, auf die Knie sank und die Stirn auf den Boden preßte.
    Die andere Handlangerin des Richters war eine zierliche kleine Amerasierin mit Brille. Kaum jemand benutzte mehr eine Brille, um Sehfehler auszugleichen, daher konnte man davon ausgehen, daß es sich in Wahrheit um eine Art von Phantaskop handelte, das einem Sachen zeigte, die gar nicht da waren, so wie Raktive. Aber wenn Leute sie nicht zu Unterhaltungszwecken benutzten, hatten sie ein hochtrabenderes Wort dafür: Phänomenoskop.
    Man bekam ein Phantaskopsystem, das direkt in die Netzhaut eingepflanzt wurde, so wie Buds Soundanlage in seinen Trommelfellen saß. Man bekam sogar Telaesthetiks, die an verschiedenen Wirbeln in Schlüsselpositionen direkt in die Wirbelsäule eingesetzt wurden. Doch behauptete man, daß das auch Nachteile mit sich brachte: möglicherweise langfristige Nervenschäden; außerdem ging das Gerücht, daß die Hacker der großen Medienkonzerne einen Weg gefunden hatten, die eingebauten Sicherheitsvorkehrungen zu überwinden, und einem ununterbrochen ihren Werbeschrott in den Rand des Gesichtsfelds einspielten (oder auch einfach mittenrein) – sogar, wenn man die Augen geschlossen hatte. Bud kannte so einen Typen, der sich irgendwie mit einem Meme infiziert hatte, das rund um die Uhr Werbespots für billige Absteigen in Hindi in der rechten unteren Ecke seines Sehbereichs abspielte, bis sich der Kerl selbst die Kugel gegeben hatte.
    Richter Fang war überraschend jung, wahrscheinlich noch keine vierzig. Er setzte sich an den Tisch mit dem roten Tuch und redete in chinesisch. Seine beiden Handlanger standen hinter ihm. Ein Sikh war auch da; er stand auf und antwortete dem Richter ein paar Worte in chinesisch. Bud hatte keine Ahnung, was ein Sikh hier suchte, wußte aber, daß Sikhs die Angewohnheit hatten, immer dort aufzutauchen, wo man sie am wenigsten erwartete.
    Richter Fang sagte mit New Yorker Akzent: »Der Repräsentant des Protokolls hat vorgeschlagen, daß wir die Verhandlung in Englisch führen. Irgendwelche Einwände?«
    Ebenfalls anwesend war der Typ, den er

Weitere Kostenlose Bücher