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Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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ganze Operation etwas von einer rührenden Vergeblichkeit gehabt. Sie hatte diesen altmodischen Zwanzigstes-Jahrhundert-Touch, und Nell verspürte eine seltsam notstalgische Sehnsucht nach der Zeit, als Gefahr eine Funktion von Masse und Umfang war. Es machte so viel Spaß, die Passiven aus jener Zeit anzusehen, mit ihren großen, dummen Autos, ihren großen, dummen Waffen und ihren großen, dummen Menschen.
    Stromaufwärts und stromabwärts der Brücke drängten sich Flüchtlingsfamilien auf den Bestattungspiers und warfen Tote in den Huang Pu; die in weiße Laken gehüllten, ausgemergelten Leichen sahen wie Zigaretten aus. Die Behörden der Küstenrepublik hatten Pässe für die Brücken verteilt, um zu verhindern, daß Flüchtlinge vom Lande die vergleichsweise geräumigen Straßen, Plätze, Innenhöfe und Hallen von Pudong überschwemmten und die Büroangestellten an der Arbeit hinderten. Als Nell auf der anderen Seite ankam, hatten mehrere hundert Flüchtlinge sie bereits als Almosenspenderin ausgemacht und erwarteten sie mit einstudierten Darbietungen: Frauen hielten ihre abgemagerten Babys hoch oder ältere Kinder, die darauf dressiert waren, komatös in ihren Armen zu hängen; Männer mit offenen Wunden und beinlose Krüppel, die sich rücksichtslos durch die Menge drängten und nach den Knien der Leute schlugen. Die Taxifahrer waren stärker und aggressiver als das Landvolk und genossen einen Ruf der Rücksichtslosigkeit, der ihnen auch in der Menge einen gewissen Freiraum sicherte, und das war wertvoller als ihre Fahrzeuge selbst; ein Fahrzeug konnte immer im Verkehr steckenbleiben, aber die Mütze eines Taxisfahrers schuf ein magisches Kraftfeld, das es seinem Träger ermöglichte, sich schneller als alle anderen fortzubewegen.
    Auch die Taxifahrer bestürmten Nell, die sich für den größten von ihnen entschied und mit ihm feilschte, indem sie die Finger hochhielt und sich in ein paar shanghainesischen Wörtern versuchte. Als die Zahlen für ihn in die richtige Größenordnung geklettert waren, wirbelte er plötzlich zu der Menschenmenge herum. Seine unvermittelte Bewegung scheuchte die Menschen zurück, und der einen Meter lange Bambusstab in seiner Hand trug das Seinige dazu bei. Er setzte sich in Bewegung, und Nell folgte ihm, achtete nicht auf die Myriaden, die an ihrem langen Rock zupften, und versuchte, nicht daran zu denken, welcher von den Bettlern ein Mitglied der Fäuste mit einem verborgenen Messer sein mochte. Wenn ihre Kleidung nicht aus reißfestem, unzerstörbarem Nanostoff bestanden hätten, wäre sie binnen eines einzigen Blocks splitternackt gewesen.
    Madame Pings Geschäft ging immer noch ziemlich gut. Ihre Kunden waren bereit, einige Unannehmlichkeiten in Kauf zu nehmen, um zu ihr zu gelangen. Von der Brücke war es nicht weit bis zu ihr, und Madame hatte einige draufgängerische Taxifahrer als persönlichen Begleitschutz angeheuert. Angesichts der Raumknappheit in Shanghai war ihr Etablissement erstaunlich groß; es beanspruchte den größten Teil eines fünfstöckigen Stahlbetonmietshauses aus der Mao-Dynastie; angefangen hatte Madame mit wenigen Zimmern, und im Lauf der Jahre hatte sie nach und nach expandiert.
    Der Empfangsbereich erinnerte an die Halle eines nicht allzu schlechten Hotels, davon abgesehen, daß es keine Bar und kein Restaurant gab; keiner der Klienten wollte andere sehen oder von ihnen gesehen werden. Am Tresen warteten Concierges, deren Aufgabe darin bestand, die Kunden so schnell wie möglich von der Bildfläche verschwinden zu lassen, und diese Aufgabe erledigten sie so gekonnt, daß ein ahnungsloser Passant den Eindruck gewinnen konnte, bei Madame Ping handle es sich um eine Art Kidnappingzentrale.
    Eine dieser Angestellten, eine zierliche Dame, die seltsam spröde und asexuell wirkte, obwohl sie einen Minirock aus schwarzem Leder trug, führte Nell rasch in das oberste Stockwerk, wo die großen Wohnungen gebaut worden waren und nun für die Kunden von Madame Ping ausführlichere Drehbücher realisiert wurden.
    Als Autorin betrat Nell selbstverständlich niemals denselben Raum wie der Kunde. Die Frau im Minirock führte sie in ein angrenzendes Beobachtungszimmer, wo eine hochauflösende Cine-Aufzeichnung aus dem Nebenzimmer fast eine ganze Wand für sich beanspruchte.
    Wenn Nell es nicht schon gewußt hätte, dann hätte sie an der Uniform des Kunden erkennen können, daß er Oberst in den Vereinigten Streitkräften Ihrer Majestät war. Er trug die volle

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