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Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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Standardausrüstung gehören.«
    Nells Tür hatte mehreren Fußtritten standgehalten, da sie, im Gegensatz zu denen in den Bühnenräumen, aus einer modernen Substanz bestand und auf diese Weise nicht zerstört werden konnte. Aber Nell konnte Stimmen auf dem Flur hören und befürchtete, daß sie, entgegen Napiers Spekulationen, doch über primitive Nanotechgeräte verfügen könnten – beispielsweise winzige Sprengladungen, um Türen aufzusprengen.
    Sie zog das lange Kleid aus, das ihr nur hinderlich gewesen wäre, und ließ sich auf Knie und Ellbogen nieder, damit sie unter der Tür durchsehen konnte. Draußen konnte sie zwei Paar Füße sehen. Die Männer unterhielten sich in einem leisen, sachlichen Tonfall.
    Nell riß unvermittelt mit einer Hand die Tür auf und stieß dem Angreifer direkt an der Tür einen Federhalter in den Hals. Der andere griff nach einem alten Automatikgewehr, das er an einem Gurt über der Schulter hängen hatte. Damit blieb Nell mehr als genug Zeit, um ihm ans Knie zu treten, was möglicherweise bleibenden Schaden anrichtete, ihn aber auf jeden Fall aus dem Gleichgewicht brachte. Der Angreifer versuchte weiter, das Gewehr in Anschlag zu bringen, während Nell ihn unablässig trat. Schließlich gelang es ihr, ihm das Gewehr aus seiner kraftlosen Hand zu entwinden, es herumzudrehen und ihm mit dem Kolben auf den Kopf zu schlagen.
    Der Kämpfer der Fäuste mit dem Füller im Hals saß auf dem Boden und beobachtete sie gelassen. Als sie das Gewehr auf ihn richtete, hielt er eine Hand hoch, senkte den Blick und wandte sich ab. Seine Wunde blutete, aber nicht sehr; sie hatte ihm den Spaß verdorben, aber nichts Lebenswichtiges verletzt. Sie überlegte, daß es langfristig wahrscheinlich gut für ihn war, den Aberglauben aufzugeben, er sei unverwundbar.
    Constable Moore hatte ihr das eine oder andere über Gewehre beigebracht. Sie wich wieder in ihr Zimmer zurück, schloß die Tür ab und verwendete etwa eine Minute darauf, sich mit der Bedienung vertraut zu machen, das Magazin zu überprüfen (nur halb voll) und einen einzigen Schuß abzufeuern (in die Tür, die ihm standhielt), um sicherzugehen, daß die Waffe funktionierte.
    Sie versuchte, Erinnerungen an den Zwischenfall mit dem Schraubenzieher zu verdrängen. Es machte ihr angst, bis ihr klar wurde, daß sie diesmal die Lage weitaus besser im Griff hatte. Ihre Gespräche mit dem Constable waren nicht ganz ohne Wirkung geblieben.
    Dann ging sie durch Korridore und Treppen zur Halle und scharte langsam eine wachsende Gefolgschaft verängstigter junger Frauen um sich. Sie kamen an einigen Kunden vorbei, überwiegend Männer und überwiegend Europäer, die aus ihren Bühnenräumen gezerrt und von den Fäusten brutal zerstückelt worden waren. Dreimal mußte sie schießen und registrierte jedesmal überrascht, wie kompliziert es war. Nell, die an die Fibel gewöhnt war, mußte in der Wirklichkeit Zugeständnisse machen.
    Sie und ihre Gefolgschaft fanden Oberst Napier, zu etwa drei Vierteln bekleidet, in der Halle, wo er einen bemerkenswerten Fechtkampf mit zwei Fäusten ausführte, die möglicherweise hier zurückgelassen worden waren, um den Fluchtweg freizuhalten. Nell überlegte sich, ob sie auf die Fäuste schießen sollte, entschied sich aber dagegen, weil sie ihrer Treffsicherheit nicht vertraute und von dem Schauspiel wie hypnotisiert war.
    Nell wäre von Oberst Napier hingerissen gewesen, wenn sie ihn nicht vor kurzem an einem Gestell festgeschnallt gesehen hätte. Doch gerade etwas an diesem Widerspruch machte ihn, und damit alle viktorianischen Männer, faszinierend für sie. Sie führten ein Leben, in dem Gefühle fast vollständig unterdrückt wurden – eine Form der Askese, die ebenso extrem war wie die eines mittelalterlichen Säulenheiligen. Und doch hatten sie Gefühle, wie alle anderen auch, reagierten sie aber nur unter sorgfältig kontrollierten Umständen ab.
    Napier durchbohrte gelassen einen Kämpfer der Fäuste, der gestolpert und gestürzt war, dann wandte er seine Aufmerksamkeit einem neuen Widersacher zu, einer eindrucksvollen, mit einem richtigen Schwert bewaffneten Erscheinung. Das Duell zwischen westlicher und östlicher Kunst des Zweikampfs erforderte die gesamte Halle; die Kontrahenten sahen einander direkt in die Augen und versuchten, die Gedanken und das emotionale Befinden des anderen abzuschätzen. Die tatsächlichen Hiebe und Abwehrschläge und Riposten kamen so schnell, daß man ihnen nicht mit dem Auge

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