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Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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folgen konnte. Der Kämpfer der Fäuste bot mit seinem Kampfstil einen wunderbaren Anblick; seine langsamen Bewegungen erinnerten an Raubkatzen, die sich im Zoo streckten. Napiers Stil war durch und durch langweilig: Er bewegte sich in schräger Haltung vorwärts, beobachtete seinen Gegner gelassen und schien offenbar angestrengt nachzudenken.
    Als Nell den kämpfenden Napier beobachtete, an dessen Jackett Orden und Litzen baumelten und funkelten, wurde ihr klar, daß gerade die Unterdrückung ihrer Emotionen die Viktorianer zu den reichsten und mächtigsten Leuten der Welt machte. Die Fähigkeit, ihre Gefühle zu verdrängen, war keineswegs pathologisch, sondern eher eine Art mystischer Kunst, die ihnen eine beinahe magische Macht über die Natur und die intuitiveren Stämme verlieh. Darin lag auch die Stärke der Nipponesen.
    Bevor der Kampf zu Ende geführt werden konnte, kam ein SmartProjektil, so groß wie eine Pferdebremse, mit einer Antenne so dick wie ein Haar und so lang wie ein Finger, zu einem der geborstenen Fenster hereingeschossen und bohrte sich in den Nacken des Kämpfers der Fäuste. Der Aufprall war nicht besonders heftig, aber es mußte ein Gift in sein Gehirn gespritzt haben. Der Mann setzte sich hastig auf den Boden, machte die Augen zu und starb in dieser Haltung.
    »Nicht sehr ritterlich«, sagte Oberst Napier mißfällig. »Ich schätze, dafür muß ich mich bei einem Bürokraten droben in New Chusan bedanken.«
    Bei einem vorsichtigen Rundgang durch das Haus fanden sie einige weitere Fäuste, die auf dieselbe Weise gestorben waren. Draußen strömte die altbekannte Menge von Flüchtlingen, Bettlern, Fußgängern und Fahrradkurieren so gleichgültig wie der Jangtse vorbei.
    Oberst Napier kam in der nächsten Woche nicht mehr zu Madame Ping, aber Madame Ping machte Nell keinen Vorwurf, weil sie diesen Kunden verloren hatte. Im Gegenteil, sie lobte Nell, weil sie die Wünsche des Obersten korrekt erkannt und so gut improvisiert hatte. »Eine ausgezeichnete Darbietung«, sagte sie.
    Nell hatte ihre Arbeit bisher nicht als Darbietung betrachtet, und aus einem unerfindlichen Grund provozierten Madame Pings Worte sie so, daß sie bis spät in die Nacht wach blieb und in die Dunkelheit über ihrer Koje starrte.
    Seit frühester Kindheit erfand sie Geschichten und erzählte sie der Fibel, und nicht selten wurden sie verarbeitet und in die Geschichten der Fibel eingegliedert. Für Nell war es ganz natürlich, dieselbe Arbeit für Madame Ping zu tun. Aber nun hatte ihre Chefin von einer Darbietung gesprochen, und Nell mußte gestehen, daß es in gewissem Sinne eine war. Ihre Geschichten wurden verarbeitet, zwar nicht von der Fibel, sondern von einem anderen Menschen, und wurden so Bestandteil des Denkens dieser anderen Person.
    Das schien durchaus einfach zu sein, aber die Vorstellung beunruhigte sie aus einem Grund, der ihr erst bewußt wurde, als sie mehrere Stunden im Halbschlaf darüber nachgegrübelt hatte.
    Oberst Napier kannte sie nicht und würde sie vermutlich nie kennenlernen. Jeglicher Kontakt zwischen ihm und Nell war durch die Schauspielerin zustande gekommen, die sich Miss Braithwaite nannte, und durch verschiedene technologische Systeme.
    Dennoch hatte sie ihn zutiefst berührt. Sie war tiefer in seine Seele eingedrungen als jede Geliebte. Wenn Oberst Napier beschlossen hätte, in der darauffolgenden Woche wiederzukommen und Nell wäre nicht da gewesen, um eine Geschichte für ihn zu erfinden, hätte er sie vermißt? Nell vermutete, ja. Aus seinem Blickwinkel hätte eine undefinierbare Essenz gefehlt, und er wäre unbefriedigt wieder gegangen.
    Wenn Oberst Napier das bei seinem Umgang mit Madame Ping passieren konnte, konnte es dann auch ihr bei ihrem Umgang mit der Fibel passieren? Ihr war stets gewesen, als gäbe es eine Essenz in dem Buch, etwas, das sie verstand und sogar liebte, das ihr verzieh, wenn sie etwas falsch, und sich freute, wenn sie etwas richtig machte.
    Als sie noch sehr jung war, hatte sie das alles überhaupt nicht hinterfragt; es hatte einfach zum Zauber des Buches gehört. In letzter Zeit hatte sie begriffen, daß es sich um das Wirken eines parallelen Computers von ungeheurer Größe und Leistung handelte, der darauf programmiert war, den menschlichen Geist zu verstehen und ihm zu geben, was er brauchte.
    Jetzt war sie nicht mehr so sicher. Prinzessin Nells jüngste Reisen durch das Land von König Kojote und die verschiedenen Schlösser mit ihren immer

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