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Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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lassen, wenn er nicht gerade drinnen an seinen Programmen saß. Im Lauf der Jahre hatten sich allmählich Gleichgesinnte zu ihnen gesellt, die ähnliche Geschichten zu erzählen hatten, und so hatten sie zur Zeit des Interregnums eine siebenhundertköpfige Gemeinde gebildet, deren Wohnorte über ein Areal von mehreren tausend Quadratmeilen verstreut lagen, die aber, elektronisch gesehen, so dicht beisammen wohnten wie jedes kleine Dorf im Wilden Westen. Ihre technologische Überlegenheit, ihr großer Reichtum und ihre zahllosen schweren Waffen hatten sie zu einer gefährlichen Gruppe gemacht; Desperados, die in Pickups herumfuhren und einsame Farmen überfielen, wurden stets mit vernichtender Schnelligkeit umzingelt und entwaffnet. Großvater erzählte für sein Leben gern Geschichten von diesen Kriminellen, wie sie versucht hatten, ihre Verbrechen dadurch zu rechtfertigen, daß sie wirtschaftlich benachteiligt oder von der Krankheit des Drogenmißbrauchs befallen wären, und wie die Einsamen Adler - von denen viele selbst Armut und Drogenabhängigkeit überwunden hatten - sie mit Erschießungskommandos zur Strecke gebracht und als Betreten-VERBOTEN-Schilder an ihren Grundstücksgrenzen aufgehängt hatten, die sogar Analphabeten lesen konnten.
    Die Ankunft des Gemeinschaftlichen Ökonomischen Protokolls hatte die Lage entspannt und den Ort in den Augen der Alten aufgeweicht und ruiniert. Nichts stärkte das Gefühl für Verantwortung und Zusammengehörigkeit mehr, als um drei Uhr morgens aufzustehen und mit einem geladenen Gewehr bei Minustemperaturen die Grenzbefestigungen abzureiten. Carl Hollywoods deutlichste und beste Erinnerungen waren daran, wie er seinen Vater auf solchen Ritten begleitet hatte. Aber wenn sie auf festgetretenem Schnee Rast machten und auf offenem Feuer Kaffee kochten, schalteten sie das Radio ein und hörten Meldungen über den Dschihad, der in Xinjang tobte und die Han nach Osten vertrieb, und über die ersten Vorfälle von Nanotech-Terrorismus in Osteuropa. Carls Vater mußte ihm nicht sagen, daß ihre Gemeinschaft allmählich den Charakter eines historischen Freizeitparks bekam und sie die Patrouillen in den Bergen bald zugunsten modernerer Verteidigungssysteme aufgeben mußten.
    Auch nachdem die ganzen Neuerungen durchgeführt waren und die Gemeinschaft sich überwiegend der Ersten Verzettelten Republik angeschlossen hatte, waren Carl und sein Vater und Großvater den alten Lebensweisen treu geblieben, hatten Elche gejagt und ihre Häuser mit Holzöfen beheizt und bis spät in die Nacht in dunklen Zimmern an ihren Monitoren gesessen, wo sie Programme von Hand in Computersprachen schrieben. Es war ein reiner Männerhaushalt (Carls Mutter war, als er neun Jahre alt war, bei einem Floßunfall ums Leben gekommen), und Carl hatte sich bei der ersten sich bietenden Gelegenheit abgesetzt, war nach San Francisco und dann nach London gegangen und hatte sich bei Theaterproduktionen nützlich gemacht. Aber je älter er wurde, desto deutlicher begriff er, wie sehr er an dem Ort seiner Jugend verwurzelt war, und das spürte er stets dann am deutlichsten, wenn er bei Gewitter in Shanghai eine belebte Straße entlangschritt, eine dicke Zigarre paffte und sah, wie der Regen von seiner Hutkrempe tropfte. Die intensivsten und deutlichsten Empfindungen seines Lebens waren während seiner ersten nächtlichen Patrouille in seinen jungen und schutzlosen Verstand eingedrungen, als er wußte, daß die Desperados irgendwo da draußen lauerten. Im späteren Leben kehrte er immer wieder zu diesen Erinnerungen zurück und versuchte, dieselbe Reinheit und Intensität des Empfindens einzufangen oder seine Rakteure dazu zu bringen, sie zu fühlen. Heute spürte er es zum erstenmal seit dreißig Jahren wieder hundertprozentig genauso, diesmal auf den heißen Straßen von Shanghai, in dem eine dynastische Rebellion pulsierte wie in den Arterien eines alten Mannes, der bald seinen ersten Orgasmus seit Jahren haben wird.
    Er suchte nur ganz kurz sein Hotel auf, wo er sich Schreibpapier und einen Füller, ein silbernes Zigarrenetui, in dem die Zigarren wie Patronen in einem Magazin steckten, und ein paar winzige Behälter mit Nanoschnee, mit dem er Funktion von Körper und Geist beeinflussen konnte, in die Manteltaschen steckte. Außerdem nahm er einen schweren Spazierstock mit, einen echten Zauberstab mit Sicherheits-Aerostats, die ihn im Falle eines Aufruhrs ins Hotel zurückbefördern würden. Dann begab er sich wieder

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