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Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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Puppenspieler, der an den Fäden zieht und seinen Marionetten Stimmen und Persönlichkeit leiht. Darum finde ich, daß du mehr als ein Ingenieur bist. Du brauchst einfach nur ein magisches Buch, damit das zum Ausdruck kommt.«
    »Nun... an diesen Punkt hatte ich gar nicht gedacht«, sagte ihr Vater mit plötzlich bewegter Stimme. Sie kämpfte gegen den Wunsch, sich über die Bettkante zu beugen und in sein Gesicht zu sehen, was ihm peinlich gewesen wäre.
    Statt dessen rollte sie sich im Bett zusammen und machte die Augen zu.
    »Was auch immer du von mir denken magst, Fiona – und ich muß gestehen, ich bin angenehm überrascht, daß du so große Stücke auf mich hältst –, für diejenigen, die mich auf diese Mission geschickt haben, bin ich Ingenieur. Ohne arrogant zu sein, darf ich wohl sagen, daß ich es auf diesem Gebiet ziemlich schnell weit gebracht und eine verantwortungsvolle Position erlangt habe. Da dies die einzige Eigenschaft ist, die mich von anderen Männern unterscheidet, kann nur sie der Grund dafür sein, daß ich ausgewählt wurde, den Alchimisten zu finden. Daraus schließe ich, daß der Alchimist ebenfalls ein Nanotechnologieforscher von einigen Qualitäten ist und man annimmt, daß er ein Produkt entwickelt, das für mehr als eine der Großmächte von Interesse ist.«
    »Sprichst du von der Saat, Vater?«
    Er schwieg einen Moment. Als er weitersprach, klang seine Stimme hoch und gepreßt. »Die Saat. Woher weißt du von der Saat?«
    »Du hast mir davon erzählt, Vater. Du hast mir gesagt, daß sie gefährlich ist und die Protokollwahrung nicht dulden darf, daß sie geschaffen wird. Und außerdem ...«
    »Außerdem was?«
    Sie wollte ihn daran erinnern, daß ihre Träume schon seit mehreren Jahren von Saat erfüllt waren und sie in jeder Geschichte der Fibel eine beherrschende Rolle gespielt hatten: Saat, die zu Schlössern wuchs; Drachenzähne, aus denen Soldaten wurden; Saat, die zu gigantischen Bohnenranken heranwuchs, die zu Alternativuniversen in den Wolken vordrangen; und Saat, die von umherziehenden alten Frauen an gastfreundliche, unfruchtbare Paare gegeben wurde, damit Pflanzen mit ausgebeulten Hülsen daraus wuchsen, in denen sich glückliche, strampelnde Babys befanden.
    Aber sie spürte, wenn sie das direkt ansprach, würde er ihr die Stahltür vor der Nase zuschlagen – eine Tür, die im Augenblick einen aufreizenden Spaltweit offenstand.
    »Warum glaubst du, daß Saaten so interessant sind?« fragte sie.
    »Sie sind auf dieselbe Weise interessant wie eine Flasche Nitroglyzerin«, sagte er. »Sie sind eine subversive Technologie. Du darfst nie wieder von Saaten sprechen, Fiona – überall könnten Agenten von CryptNet lauern und unsere Gespräche mithören.«
    Fiona seufzte. Wenn ihr Vater offen sprach, konnte sie den Mann erahnen, der ihr die Geschichten erzählt hatte. Wenn bestimmte Themen zur Sprache kamen, ließ er den Schleier herunter und wurde zu einem x-beliebigen viktorianischen Gentleman. Es war zum Aus-der-Haut-Fahren. Aber sie spürte auch, daß dieselben Eigenschaften bei einem Mann, der nicht ihr Vater war, provozierend sein konnten. Es war eine so offensichtliche Schwäche, daß weder sie noch eine andere Frau der Verlockung widerstehen konnte, sie auszunutzen – eine schalkhafte und damit faszinierende Idee, die im Lauf der nächsten paar Tage, als sie andere Mitglieder ihres Stammes in London trafen, einen Großteil von Fionas Denken beanspruchte.
     
    Nach einem einfachen Essen – Bier und Getränke in einem Pub am Stadtrand – fuhren sie über die Tower Bridge nach Süden, durchquerten die dünne Schicht eines Luxusviertels am Flußufer und gelangten nach Southwark. Wie in den anderen atlantischen Bezirken von London waren auch hier Feederleitungen in die Sehnen des Viertels eingearbeitet, führten durch Gütertunnels, klebten an den rauhen Unterseiten von Brücken und wurden durch kleine, in die Fundamente gebohrte Löcher in die Gebäude hineingeführt. Die winzigen alten Häuser und Wohnungen dieses einst heruntergekommenen Viertels waren überwiegend in Unterkünfte für junge Atlanter aus allen Winkeln der Anglosphäre umgebaut worden, arm an Dividenden, aber reich an Erwartungen, die in die große Stadt gekommen waren, um Karriere zu machen. Im Erdgeschoß bestanden die Geschäfte fast ausschließlich aus Pubs, Cafes und Music-Halls. Je weiter Vater und Tochter nach Osten vordrangen, meistens mehr oder weniger parallel zum Fluß, desto fadenscheiniger

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