Diamond Age - Die Grenzwelt
Boot.
Es war acht oder zehn Meter lang. Eine Gangway gab es nicht, dafür warteten schon Leute an Bord, die sie an den Armen hielten und hinüberzogen, ein Verstoß gegen die Etikette, der so schnell geschah, daß ihnen keine Zeit blieb, sich unbehaglich zu fühlen.
Bei dem Boot handelte es sich im Grunde genommen um eine große, flache, offene Wanne, nicht viel mehr als ein Rettungsfloß mit einem Steuermechanismus am Bug und einem modernen und damit vernachlässigbar kleinen Antriebssystem, das ins Heck eingebaut war. Als sich ihre Augen an das spärliche Licht gewöhnt hatten, das durch den Nebel drang, konnten sie etwa ein Dutzend weitere Passagiere am Bootsrand erkennen, die so saßen, daß das Kielwasser passierender Fahrzeuge sie nicht beeinträchtigen konnte. John, der die Klugheit dieser Maßnahme einsah, führte Fiona zum einzigen freien Platz, wo sie sich zwischen zwei anderen Gruppen setzten: einem Trio junger nipponesischer Männer, die einander Zigaretten aufdrängten, und einem Mann und einer Frau in lässigen, aber teueren Klamotten, die Bier aus Dosen tranken und sich mit kanadischem Akzent unterhielten.
Der Mann vom Pier machte die Fangleine los und sprang an Bord. Ein anderer hatte das Steuer übernommen und beschleunigte sanft in die Strömung, drosselte die Maschinen an einem Punkt und ließ das Boot mit einer einwärts fließenden Welle treiben. Als das Boot in den Hauptkanal gelangte und wieder beschleunigte, wurde es rasch ziemlich kühl, worauf alle Passagiere murmelten und mehr Wärme von ihrer therogenen Kleidung verlangten. Der afrokaribische Mann machte die Runde mit einer schweren Kiste voller Bierdosen und halber Flaschen Pinot noir. Die Gespräche kamen einige Minuten zum Erliegen, als die Passagiere, alle von denselben Urinstinkten getrieben, die Gesichter dem kühlen Wind zuwandten und sich im sanften Wiegen des Boots in den Wellen entspannten.
Die Fahrt dauerte fast eine ganze Stunde. Nach ein paar Minuten kamen die Gespräche wieder in Gang, aber die meisten Passagiere blieben innerhalb ihrer kleinen Gruppen. Die Kiste mit den Erfrischungen machte noch ein paarmal die Runde. John Hackworth schloß aus ein paar subtilen Hinweisen, daß einer der nipponesischen Jugendlichen berauschter war, als er zugeben wollte, und wahrscheinlich ein paar Stunden in einem Pub an den Docks verbracht hatte, bevor er zum Pier gekommen war. Er nahm jedesmal etwas aus der Kiste, wenn sie vorbeikam, und nach einer halben Stunde Fahrt stand er unsicher auf, beugte sich über den Bootsrand und erbrach sich. John drehte sich um und grinste seine Tochter an. Das Boot traf auf eine unsichtbare Welle und rutschte seitlich in das Wellental hinein. Hackworth hielt sich zuerst an der Reling fest, dann ergriff er den Arm seiner Tochter.
Fiona schrie. Sie sah über Johns Schulter zu den nipponesischen Jugendlichen. John drehte sich um und stellte fest, daß sie nur noch zu zweit waren; der Betrunkene war verschwunden, und die beiden anderen lagen mit den Bäuchen auf dem Bootsrand und streckten die Arme aus, so daß ihre Finger wie weiße Strahlen über dem schwarzen Wasser aussahen. John spürte, wie Fiona ihren Arm aus seinem Griff befreite, drehte sich um und bekam gerade noch mit, wie sie über Bord sprang.
Es war vorbei, bevor er Zeit hatte, richtig Angst zu bekommen. Die Besatzung behandelte den Zwischenfall mit einer einstudierten Nüchternheit, die darauf hindeutete, daß der nipponesische Mann in Wirklichkeit ein Schauspieler war und der gesamte Vorfall zur Inszenierung gehörte. Der afrokaribische Mann fluchte und brüllte mit einer klaren und mächtigen Stimme, einer Bühnenstimme, die wie ein Cello von Stradivari klang, daß sie sich festhalten sollten. Er drehte die Kiste um, kippte alle Dosen und Flaschen heraus, klappte sie zu und warf sie als Rettungsboje über das Heck. Derweil wendete der Steuermann das Boot. Mehrere Passagiere, darunter auch Hackworth, hatten Mikrofackeln entfacht und richteten die Lichtstrahlen auf Fiona, deren Röcke sich aufgebauscht hatten, als sie mit den Füßen voran ins Wasser gesprungen war, und sie nun umgaben wie ein blumengeschmücktes Floß. Mit einer Hand hielt sie den Nipponesen am Kragen fest, mit der anderen den Griff der Getränkekiste. Sie hatte weder die Kraft noch den Auftrieb, den betrunkenen Mann über Wasser zu halten, und die beiden wurden durch die vom Meer hereinströmenden Wellen überrollt.
Der Mann mit den Dreadlocks zog zuerst Fiona heraus
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