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Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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und reichte sie an ihren Vater weiter. Die Fabrikülen, aus denen ihre Kleidung bestand – zahllose Milben, die mit untergehakten Ellbogen ein zweidimensionales Geflecht bildeten –, machten sich an die Arbeit und pumpten das Wasser aus den Zwischenräumen. Fiona wurde in einen wallenden Schleier aus Dampf gehüllt, in dem das gespiegelte Licht der Fackeln leuchtete. Ihr dichtes rotes Haar, vom Hut befreit, den die Wellen mit sich gerissen hatten, hing wie ein brennendes Cape an ihr herab.
    Sie sah Hackworth trotzig an, dessen Adrenalindrüsen nun doch endlich in den endokrinen Schnellgang hochgeschaltet hatten. Als er seine Tochter in diesem Zustand sah, kam es ihm vor, als würde jemand unerbittlich einen hundert Pfund schweren Eisklotz auf seiner Wirbelsäule entlangschieben. Als das Gefühl zu seinem Rückenmark durchgedrungen war, taumelte er und mußte sich beinahe setzen. Sie hatte sich irgendwie durch eine unbekannte und unsichtbare Barriere geworfen und war zu einem übernatürlichen Wesen geworden, einer Najade, die, in Feuer und Dampf gehüllt, aus dem Wasser emporstieg. In einer rationalen Schublade seines Verstands, die jetzt unwichtig geworden war, fragte sich Hackworth, ob Dramatis Personae (was der Name des Ensembles war, das diese Vorstellung gab) Nanositen in sein System eingeführt hatte, und wenn ja, was genau sie mit seinem Gehirn anstellten.
    Wasser strömte von Fionas Röcken und floß zwischen den Planken ab, und dann war sie trocken, abgesehen von Gesicht und Haaren. Sie wischte sich das Gesicht am Ärmel ab, ohne das Taschentuch auch nur zu beachten, das ihr Vater bereithielt, und sie umarmten sich nicht, als wäre auch Fiona klargeworden, welche Wirkung sie auf ihren Vater und alle anderen ausübte - ein Gespür, vermutete Hackworth, das bei allen sechzehnjährigen Mädchen stark ausgeprägt sein mußte. Inzwischen war der nipponesische Mann fast damit fertig, Wasser aus seinen Lungen zu husten und kläglich nach Luft zu schnappen. Kaum waren seine Atemwege frei und funktionierten wieder, setzte er zu einer heiseren und längeren Ansprache an. Einer seiner Begleiter übersetzte: »Er sagt, daß wir nicht alleine sind, daß es im Wasser von Geistern wimmelt, daß sie mit ihm gesprochen haben. Er folgte ihnen unter die Wellen. Aber als er spürte, wie seine Seele den Körper verlassen wollte, bekam er Angst und schwamm zur Oberfläche zurück und wurde von der jungen Frau gerettet. Er sagt, daß die Geister zu uns allen sprechen und wir ihnen zuhören müssen!«
    Unnötig zu sagen, daß das peinlich war, daher löschten sämtliche Passagiere ihre Fackeln und wandten sich von dem mitgenommenen Passagier ab. Doch als Hackworths Augen sich angepaßt hatten, betrachtete er den Mann noch einmal und stellte fest, daß Stellen seiner Haut in einem bunten Licht erstrahlten.
    Er betrachtete Fiona und sah, daß ein Band weißen Lichts ihren Kopf wie eine Tiara umgab, so hell, daß es rötlich durch ihr Haar schimmerte, und mit einem Juwel in der Mitte der Stirn. Hackworth betrachtete das alles aus einiger Entfernung, weil er wußte, daß sie im Augenblick ihre Ruhe haben wollte.
    Helle Lichter schwebten dicht über der Wasseroberfläche und markierten die Hüllen großer Schiffe, die mit wechselnder Parallaxe aneinander vorbeiglitten, während das Boot mit konstanter Geschwindigkeit fuhr. Sie waren zu einem Ort nahe der Flußmündung gekommen, aber nicht auf den üblichen Schiffahrtslinien, wo Schiffe vor Anker lagen und auf einen Umschwung von Winden, Gezeiten oder Märkten warteten. Eine Lichterkonstellation bewegte sich nicht, sondern wurde lediglich immer größer, je näher sie ihr kamen. Hackworth, der mit den Schatten experimentierte und das Lichtmuster studierte, das von diesem Boot im Wasser reflektiert wurde, kam zum Ergebnis, daß man ihnen absichtlich mit Scheinwerfern ins Gesicht leuchtete, damit sie keine Mutmaßungen über die Lichtquelle anstellen konnten.
    Der Nebel gerann langsam zu einer rostigen Wand, so unermeßlich und konturlos, daß sie drei oder dreißig Meter hätte entfernt sein können. Der Steuermann wartete, bis sie diese Wand fast rammten, dann schaltete er den Motor aus. Das Boot wurde sofort langsamer und schmiegte sich an die Hülle des großen Schiffs. Glitschige, tropfende Ketten sanken vom Firmament herab und drangen in Hackworths Blickfeld wie Strahlen eines Halbgotts der Schwerindustrie, klirrende Sendboten aus Eisen, welche die Besatzung mit ekstatisch

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